Mein weitsichtiger Mann meinte am Morgen, wir sollten uns einen Strandkorb mieten, dann hätten wir bei der Mondfinsternis einen exklusiven Platz. Also im Vordergrund den Strand und die Körbe und darüber hängend der Blutmond.
Den Platz hätten wir auch so, entgegnete ich, leistete aber keinen Widerstand, weil ich wusste, dass die Entscheidung längst gefallen war. Er mokierte sich zwar, dass die Tagesmiete inzwischen 13 Euro betrage (im Vorjahr waren es doch drei weniger gewesen), zahlte aber brav beim Vermieter am Strand den Obolus, nachdem diesem die existentielle Frage beantwortet worden war, ob wir die See- oder die Landseite bevorzugten.
Im Unterschied etwa zum Badetuch besteht beim Strandkorb keine freie Wahl. Man bekommt einen Schlüssel, an dem eine Nummer hängt, und macht sich auf die Suche. Irgendwann hatten wir G63 gefunden. Die Strandkörbe ringsum trugen noch Gitter. So schön leer und ruhig hier, juchzte mein Gatte, und machte den über uns kreisenden kreischenden Möwen Konkurrenz. Wart’s mal ab, sagte ich und wies auf einen Strandkorb nebenan. Der war mit Strandsommerspielekrempel bis unters Dach gefüllt. Er solle vorsichtshalber unseren Kasten seewärts in die Sonne drehen.
Ich hatte mich hinsichtlich der Nachbarn nicht geirrt.
Schon bald kreuzte eine vierköpfige Familie auf und begann, ihren Strandkorb lautstark zu entrümpeln. Der Mann befreite seinen – nun ja: ihn als übermächtig zu bezeichnen, wäre mehr als eine charmante Untertreibung – Bauch von dessen lästiger Umhüllung. Danach trieb er die Stäbe eines Windschutzes vor seinem und unseren Strandkorb lautstark mit einem Hammer in den Ostseesand. Dabei musste ihm sein vielleicht sechsjähriger Sohn assistieren. Der fand die väterlich eingeforderte Mitwirkung vermutlich wohl auch deshalb lästig, weil jeder Hammerschlag mit einer Belehrung verbunden war. Unterdessen machte die Mutter den kleineren Bruder und sich selbst strandfertig, wobei auch hier an Unterrichtung kein Mangel herrschte.
Ich belustigte mich noch eine Weile an den beiden Oberlehrern und ihren Erziehungsobjekten, zog es dann aber vor, mich mit dem Badetuch hinter unseren Strandkorb zu verziehen, um den fortgesetzt tadelnden Blicken meines Mannes zu entgehen. Er fand es gar nicht lustig, dass ich mich über die Wampe des Nachbarn amüsierte, wenn der über diese fiel, sobald er gegen einen Ball trat. Deshalb beschränkte er seine Teilnahme am familiären Fußballspiel auch auf ein Minimum. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und Schweiß perlte von seiner Stirn.
Nach einiger Zeit erklärte mein Gatte, nun sei es genug, womit er wohl die Grilldauer meinte. Zu viel Sonne sei nicht gut, außerdem könnten wir auch etwas essen. Wir sollten am späten Nachmittag zurückkehren, um dann dem Aufgang des Mondes beizuwohnen. Ich widersprach nicht, zumal es nebenan noch immer hoch her ging, weil der Dicke sich aufopferte. Er mampfte irgendwelche Crȇpes in sich hinein, die zu verzehren sowohl die Kinder als auch seine Frau sich geweigert hatten. Das verstand ich als Frau. Die Mutter wollte vermutlich ihren Bikini noch einige Zeit tragen. Aktuell ging das, was ich mit einigem Neid registrierte. Tempi passati … Im Unterschied zu ihrem Gatten hatte sie ihrer Figur augenscheinlich einige Aufmerksamkeit geschenkt. Warum die Gören den süßen Kram verschmähten, konnte ich mir hingegen nicht erklären.
Wir stapften von hinnen. Gegen 18 Uhr bezogen wir unser Beobachtungslokal erneut. Der Korb mit dem Warenlager nebenan war bereits versperrt, die meisten temporären Behausungen ringsum blickten leer und stumm auf die See, die sich leicht kräuselte. Die Abendsonne wärmte noch, davon wollte mein Mann noch möglichst viel mitbekommen. Er drehte den Strandkorb um mehr als neunzig Grad, damit die Strahlen der untergehenden Sonne uns mitten ins Gesicht trafen. Je mehr diese sich aber dem Horizont näherte, desto kühler wurde es, zumal auch der Wind auffrischte, was er sonst am Abend nie tat. Da legte er sich meist zur Ruhe. Heute nicht. Allerdings hatte mein Mann vorgesorgt und holte aus seinem Rucksack zwei Jacken. Ach, wie umsichtig er doch war.
Aber wo blieb der Mond?
Meist hing er doch bereits blass am Himmel, bevor die Sonne unterging.
Ich stand am Strand, weil ich schon nicht mehr auf dem harten Strandgestühl sitzen konnte, und ließ den Blick von Nord nach Süd wandern, denn unzählige TV- und sonstigen Berichte hatten prophezeit, das Schauspiel sollte im Osten stattfinden. Jedoch: Der Himmel war nicht nur wolken-, sondern auch mondlos. Mir tränten inzwischen die Augen, denn obwohl ich sie hinter Brillengläsern versteckt hatte, war die Meeresbrise auf Dauer doch ziemlich scharf.
Wann sollte der verdammte Mond aufgehen, um in den Kernschatten der Erde einzutauchen?
Mein Mann konsultierte sein Handy und rief mir eine Zeit zu. Die war schon lange längst vorbei.
Vielleicht sind wir am falschen Ort, fragte ich besorgt.
Nie im Leben, wir haben rundum freie Sicht, rief er. Und wenn da die Sonne untergegangen ist, er wies in Richtung Westen, muss der Mond dort – er zeigte in die entgegengesetzte Richtung – auch erscheinen.
Aber da war nichts. Nur die Lichter des LNG-Terminals auf der polnischen Seite flackerten und zeichneten die Umrisse eines Tankers.
Es sei ja auch eine Mondfinsternis, kicherte ich. Der Mond ist zwar aufgegangen, aber wir sehen ihn nicht.
Wir geben ihm noch eine Viertelstunde, dann gehen wir zurück ins Hotel, entschied mein frierender Mann. Wenn es was zu sehen gibt, gib es das auch am Fenster.
Ich folgte freiwillig seinem sehr klugen Vorschlag, denn es war inzwischen saukalt. Klarer Himmel, die heraufziehende Nacht war stockfinster. Außerdem sollte in einer reichlichen Stunde das Länderspiel angepfiffen werden, was wir gemeinsam im Fernsehen verfolgen wollten. Und vielleicht sahen wir auch noch den Sieg des ersten Bundesliga-Spiels der Frauen von Eisern Union. Die führten eins zu null gegen Nürnberg, wie ich beruhigend auf dem Handy-Display gesehen hatte.
Die Berliner Abendschau lag in den letzten Zügen, Volker Wieprecht wies noch einmal auf das Naturschauspiel hin, und vor unserm Hotelfenster marschierten Gruppen mit Stativen und beachtlichen Kameraobjektiven zum Strand. Mein Gatte verfolgte das Schauspiel stehend am Fenster, auch weil ihn das große Expertenpalaver vor den Fußballspielen immer nervt. Das verstand ich, mir ging es nicht anders. Aber er drückte sich natürlich noch aus einem anderen Grund die Nase an der Scheibe platt.
Plötzlich ein spitzer Schrei: Da ist er!
Ich eilte an seine Seite. Zugegeben, man musste schon sehr genau hinschauen, um die dunkelrötliche Scheibe am fernen Firmament zu erkennen. Und man brauchte ein sehr lichtstarkes Objektiv, damit die Kamera den Trabanten überhaupt erkannte. Mein Mann besaß kein solches Objektiv. Fluchend musste er den Blutmond mit bloßem Auge beobachten. Die Uhr zeigte 20:33 – und noch eine knappe halbe Stunde bis zum Anpfiff.
Ich kehrte zu meinem Fernsehsessel zurück, während er sich aus dem geöffneten Fenster lehnte und den über Swinemünde hängenden Mond mit seinem Smartphone verfolgte. Als Video gehe es, begründete er seine halsbrecherische Übung, allerdings erschiene der verdunkelte Mond leider nur als ein kleiner Punkt auf dem kleinen Bildschirm.
Das Spiel wurde angepfiffen, mein Mann verfolgte noch immer das Naturschauspiel am Fenster. Er war sich des Sieges über Nordirland ziemlich sicher, und außerdem brauchten die deutschen Kicker immer viel Zeit, um ins Spiel zu finden. Der erste Torjubel erfolgte zeitgleich mit einer lautstarken Reaktion meines Mannes am Fenster: Gnabry erzielte überraschend in der achten Minute ein Tor und der Mond, wie ich vernahm, sei nunmehr eine leuchtende Mondsichel. Jetzt bekommt der Mond wieder direktes Sonnenlicht, wurde ich aufgeklärt, er trete aus dem Kernschatten der Erde.
Mach endlich das Fenster zu, sagte ich, es wird kalt. Ich wolle die Wiederholung dieses Naturschauspiels Silvester 2028 noch erleben.
Als die erste Halbzeit endete, hatten wir wieder richtig Vollmond. Mein Mann stand noch immer am Ausguck. Er hatte die bessere Wahl getroffen, das Fußballspiel war nicht zum Ansehen, eine Zumutung, noch langweiliger, als einen still dahingehenden Mond zu beobachten.
Und außerdem war das Spiel der Union-Frauen mit 1:1 zu Ende gegangen. Mann, Mädels, ihr hättet mehr auf den Ball als auf den Mond schauen sollen.
Schlagwörter: Jutta Grieser, Mondfinsternis

