Rollins streckte seine Glieder und versetzte dann dem Emeritus einen Faustschlag gegen den Kopf, daß der Getroffene taumelte und dann in ein Gebüsch stürzte; dann band er sein Pferd los, setzte sich auf und ritt davon, nach Westen zu, wo er die Gefährten wußte.” Mit diesem Satz verabschiedet sich Karl May in seinem Roman „Der Ölprinz“ von dem einzigen Komponisten unter seinen Phantasiegestalten, dem „Kantor emeritus“ Matthäus Aurelius Hampel aus Klotzsche bei Dresden.
Diesen Kantor ließ er seinen Beruf aufgeben und nach Amerika kommen, mit der erstaunlichen Absicht, eine zwölfaktige Heldenoper für vier Abende zu schreiben, so etwas wie die Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner. Nur sollten ihre Helden nicht mythische Figuren sein, sondern wirkliche Zeitgenossen, Vorläufer des „Bitterfelder Weges“. Deshalb machte sich dieser Kantor emeritus auf seinen „Bitterfelder Weg“ und passte ihn dem Wagner’schen Siegfried-Mythos an.
Dies alles soll also in dem „Ölprinzen“ stehen, dem Abenteuer-Roman, den wir einst mit Spannung gelesen hatten? In dem Roman, in dem die „Finders“, eine marodierende Räuberbande, ihr Unwesen treiben und sächsische Auswanderer in der Prärie eine neue Heimat suchen. In so einem Trivialroman sollen Richard Wagner, dieser Heros der Romantik, und sein Siegfried-Mythos eine Rolle spielen? Das wäre denn doch unwahrscheinlich. Trotzdem ist es so. Der Roman ist eine Wagner-Parodie und ein Meisterwerk der Erzählkunst, surrealistischer Vorläufer des absurden Romans, dessen ironisches Thema die Verweigerung der Wirklichkeit ist. Denn auch das war eine Bitterfelder These: Die Wirklichkeit so zu schildern, wie sie nicht ist. Wer es anders machte, mußte scheitern, wie es einst der tragische Fall des Werner Bräunig und seines Romans „Rummelplatz“ zeigte.
Im „Ölprinzen“ wird die Schilderung des Scheiterns vorgeführt als die Lösung des Realismus-Problems. Was dem Kantor (alias Richard Wagner) mißlingt – in zwölf Opernakten die Wirklichkeit einzufangen –, das realisierte Karl May in seinen zwölf, den Opern-Akten entsprechenden, Roman-Kapiteln. Den ersten Lesern, den Abonnenten der Stuttgarter illustrierten Knaben-Zeitung Der gute Kamerad, dürfte eine solche Ambition verborgen geblieben sein, und den meisten Karl May-Enthusiasten bis heute ebenso. von der Literatur- und Musikwissenschaft ganz zu schweigen. „Karl May und Richard Wagner“ ist ihr Thema nicht.
Ob Karl May die Ring-Tetralogie, die er ausdrücklich erwähnt, wirklich kannte, erscheint mir zweifelhaft, denn einzelne Motive oder Sprachgestalten Wagners werden nicht reflektiert, selbst der Stabreim nicht. Parodiert wird aber die Heldenpose, die Lust am Dreinschlagen und Töten, das waffengeile Siegfried-Gehabe, das heute seine Auferstehung feiert in der bezeichnenden Vokabel von der „Kriegstüchtigkeit“. Siegfried war vor 100 Jahren in Deutschland Wagners populärste Gestalt. Sie hatte sich längst von der Oper gelöst und war das kriegstüchtige Leitbild der Jugend, rhetorische Figur in Kaiserreden und politischen Leitartikeln. Siegfried mit geflügeltem Helm, in lichter Rüstung, das Schwert in der Hand – dieses Deutschland-Bild prangte auf Kalendern und Postkarten, figurierte auf Denkmälern und Gemälden, in Büchern und Zeitungen. Wilhelm II. erhob Bayreuth zur nationalen Gebetsmühle des Deutschtums wie nach ihm nur noch Hitler.
Zu diesem Siegfried gehörte untrennbar sein Gegenbild, jene minderwertige, gekrümmte Gestalt unter seinen Füßen, mal war es ein tückischer Zwerg, dann ein Wurm oder Drache. Wen das meinte, wußte man und sprach es aus: Es war der geldgierige Jude, der dem deutschen Volk das Blut absaugte. Das hatte schon Wagner selbst so gesagt, man darf es nicht beschönigen. Um 1890 sprachen es besonders laut der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker und der Kunstwissenschaftler Julius Langbehn aus, dessen Broschüre „Rembrandt als Erzieher“ in riesigen Auflagen unter das Volk gebracht wurde. Darin las man, schon im Goebbels-Stil: „Deutschland steht auf Wacht! Nibelungengeist gegen Synagogengeist! In Worms sind schon einmal Juden verbrannt worden! Geben die letzteren acht, daß es nicht wieder so kommt […] wer weiß, ob nicht doch noch einmal in Deutschland Juden verbrannt werden.“ Die Siegfried-Gestalt des deutschen Kaiserreichs war das Symbol des deutschen Antisemitismus.
Karl May hingegen war ein Pazifist und ein Feind des Rassismus. Noch in seinem letzten öffentlichen Vortrag, am 22. März 1912, eine Woche vor seinem Tode, wird er die Verdienste der Juden um Wissenschaft und Kunst ausdrücklich hervorheben, was ihm die konservative Presse übel vermerkte. In den 1890er Jahren polemisierte er jedenfalls nicht mit Zeitungsartikeln gegen die Umfunktionierung des Siegfried-Mythos, sondern er reagierte weit wirksamer als Schriftsteller, indem er ein friedlicheres Heldenideal schuf und die Verfechter der germanischen Überlegenheit der Lächerlichkeit preisgab.
Damit sind wir wieder bei dem Kantor emeritus Matthäus Aurelius Hampel, dessen hochtrabender Name nur den berühmten winzigen Schritt vom lächerlichen Hampelmann entfernt ist. Vieles, was ihm widerfährt, ist Alberei und Ulk, es haut in die beliebte Kerbe der Opernverspottung. Wir finden ihn beispielsweise eines Nachts am Lagerfeuer damit beschäftigt, die gefesselten Mitglieder einer überrumpelten Räuberbande hin und her zu zerren und zu schieben, um eine effektvollere Anordnung für einen geplanten „Chor der Mörder“, einem „doppelten Sextett“, zu finden. Oder er entwirft zusammen mit Hobble-Frank, einem anderen Wildwestler von sächsischem Format, die erste Szene der Oper: Winnetou beschleicht im Urwald den Feind und singt dabei, aber was? Er singt überhaupt nicht, meint Hobble-Frank, denn da liefe der Feind ja weg. In Wirklichkeit vielleicht, entgegnet der Kantor. Aber dieselbe dürfe er nicht mit der Bühne verwechseln, da bleibe er natürlich da. Alles wird zu einer irrealen Spinnerei, „Oper“ in des Wortes schlechter Bedeutung. Nur dass es nicht dabei bleibt. Er versucht auch, den Lauf der Dinge nach Bitterfelder Regeln zu verändern. Das führt zu nichts Gutem. Mehrfach bringt er seine Gefährten in Gefahr und verrät sie, um ein effektvolleres Opernfinale zu ermöglichen, nämlich ein heroisches Gemetzel. Ohne die indianische Kostümierung liest es sich heute als prophetische Vorwegnahme des Jahres 1914 oder als die amerikanische Variante von Wagners „Götterdämmerung“.
Winnetou durchkreuzt dieses Spiel und besteht auf Waffenstillstand und friedlicher Versöhnung. Das passt weder damals noch heute ins Opernbild. Karl May führet sein pazifistisches Opern-Finale grandios aus. An die Stelle eines Schlachtengemäldes setzte er einen dramatischer Dialog zwischen Old Shatterhand und den sinnlos verfeindeten Indianerhäuptlingen: „Meine Brüder wissen, daß ich ein Freund der roten Männer bin. Dem Indsman gehörte das ganze Land von einem Meer bis zum anderen. Da kam der Weiße und nahm ihm alles und gab ihm dafür seine Krankheiten. Der Weiße ist sein Feind und hat ihn am meisten dadurch besiegt, daß er Unfrieden unter die roten Völker warf und einen Stamm gegen den anderen aufhetzte. Die roten Männer waren so unklug, dies geschehen zu lassen, und sie sind selbst bis auf den heutigen Tag nicht klüger geworden. Sie reiben sich untereinander auf und könnten doch heut noch Großes erreichen, wenn sie den gegenseitigen Haß fallen ließen und unter sich das wären, was sie sein sollen und wozu sie geboren sind, nämlich Brüder. Habe ich recht?“
Der Kantor erlebt dies Friedensfinale nicht mit, weil ihn Old Shatterhand gefesselt und unter Aufsicht des Bankiers Rollins am Chellyfluss zurückgelassen hat. Aber auch da richtet er Unheil an. Er verrät seinen Gefährten Rollins an den Hochstapler Grinley, den betrügerischen Ölprinzen, und verfolgt gleichzeitig seinen wirren Opernplan, für den er ein „realistisches“ Finale entwirft. Er schwärmt: „Eine herrliche Szene! Erst flehe ich ihn (den Ölprinzen) an; das gibt eine Gnadenarie für Bariton. Er verweigert mir die Erfüllung meiner Bitte im zweiten Baß. Dann wird der Bariton frei und der zweite Baß wird angebunden. Das gibt wieder eine Gnadenarie, auf welche dann ein großes Duett für zweiten Baß und Bariton folgen. Das macht Effekt, ungeheuren Effekt!“
Karl May beschreibt die Träume der armen sächsischen Weber, Tagelöhner und Dienstboten, von denen er selbst herkam. Sein Amerika ist die Inkarnation dieser Gerechtigkeitsträume, und der Roman kann deshalb auch nicht enden, ohne dass die sächsischen Auswanderer an ihr utopisches Ziel gelangen. Sie erhalten von den versöhnten Indianerstämmen Land zur Ansiedlung, und eine der wirklichen, nämlich aus der Wirklichkeit stammenden Heldinnen des Buches, die resolute Rosalie Eberschbach („geborene Morgenschtern, verwitwete Leiermüllern“) bricht in die denkwürdigen Worte aus: „Jetzt soll mir jemand sagen, daß die Wilden nicht viel besser sind als die gebildeten Leute bei uns derheeme. Keen Mensch ist bei uns drüben so human, eenen armen Teufel een solches Geschenk zu machen, und noch dazu een so großes. Drüben würde uns niemand auch nur das kleenste Feld- oder Gartenbeet anbieten.“ Und sie setzt sorgenvoll das endgültige Verdikt über den Kantor hinzu: „Hoffentlich wird der Kantor nicht ooch dableiben wollen. Da könnte uns das ganze Glück in den Brunnen fallen.“ Das war ein kompletter Gegenentwurf zum wilhelminischen Siegfried-Mythos – Deutschland als Land der Gerechtigkeit, ohne Wagner-Musik und mit sächsischer Nationalsprache.
Wagners Musik rauscht nicht durch diese Buchseiten, es könnte nichts Fremderes geben. Die Musik, die wir vernehmen, und die gelegentlich erwähnt wird, ist die der sächsischen Dorfarmut – Tanz- und Schenkenmusik auf der Ziehharmonika und Klarinette. Und vielleicht der Lutherchoral, den der Kantor auf dem Wege zum Wagner-Ruhm so nachdrücklich an den Nagel hängte. Die originale amerikanische Musik fehlt allerdings. Karl May konnte sie nicht kennen, weil er das wirkliche Amerika nicht kannte.. Aber ich bin mir sicher, wenn Karl May in St. Louis gewesen wäre, die Minstrel Shows gesehen und Scott Joplin und andere Ragtime-Pianisten gehört hätte – diese Musik wäre sicher in seinen Romanen präsent.
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