Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 13. April 2009, Heft 8

Déjà-vu

von Heinz Jakubowski

Ein Buch soll hier besprochen werden, das sich vorgenommen hat, 60 Lebensjahre der Zeitung Neues Deutschland zu bündeln und für Interessenten nachvollziehbar zu machen. Ich war bei diesem Organ immerhin 17 Jahre tätig, als innen- und außenpolitischer Redakteur und auch in leitender Position. Daß ich die gerade erschienene Edition mit entsprechendem Interesse gelesen habe, ist sicher nachvollziehbar.

Gestählt in Auseinandersetzungen mit seinerzeitig lufthoheitlichen Genossen, die, wenn‘s um Zweifel oder gar Widerspruch ging, dem damit Auftretenden erstmal all das vorwarfen, was dieser – erkennbar – nicht gemeint hatte, fühle ich mich allerdings auch heute noch genötigt, wenigstens ein paar Klassiker unter den zu erwartenden Protesten vorwegnehmend auszuschalten. Also: Ja, es gibt kein Buch, »in dem alles drinsteht«, also kann man dies auch vom vorliegenden nicht verlangen; ebensowenig wie von dieser Rezension darüber. Und freilich ist jedes Druckwerk das Resultat subjektiver Brechung des Beschriebenen durch den Kenntnis- und Erfahrungshorizont seiner Autoren. Subjektivität in Faktenauswahl und -bewertung sei auch in diesem Falle den Autoren natürlich zugestanden.

Was ich dem Buch vorzuwerfen habe, ist, daß es viel mehr »Schwierigkeiten mit der Wahrheit« hat, als dies bei der gleichlautenden ND-Eigenwerbung wohl gemeint, ist. Bis zum Finale der Ulbricht-Ära mag der Umgang mit diesen »Schwierigkeiten« noch leidlich gelungen sein. Dann aber, ab Honeckers Regentschaft, kann von Gründlichkeit der Betrachtung nicht mehr die Rede sein. Womöglich, weil man hier viel mehr lebenden Zeitzeugen nahetreten müßte, als die Autoren dies wollten? Denn wiewohl natürlich zutrifft, daß Honecker und dessen Chefredakteure Joachim Herrmann, Günter Schabowski und Herbert Naumann eine fundamentale Verantwortung dafür zukommt, daß das ND, ja die gesamte Medienpolitik der DDR, so war, wie sie war, so fällt auf, daß sich die Chronisten doch auffallend verschämt einer eigentlich noch fundamentaleren widmen. Der Verantwortung nämlich all jener, die mitgespielt haben. Mal mit geballter Faust in der Tasche, mal schulterzuckend, mal eifrigen Willens. Die aber auf alle Fälle dem zuwidergehandelt haben, wozu sie sich im akzeptierten Parteistatut ja doch bekannt haften: Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Kampfgeist – nur »der Sache« verpflichtet und nicht irgendwelchen Sachwaltern. So bitter das für uns Beteiligte sein mag: Wir waren statt dessen »willige Vollstrecker«, der eine mehr, der andere weniger.

In jenen 17 Jahren meiner Mitarbeit im Vorwende-ND kann ich mich kaum an ein halbes Dutzend Fälle eines – zumal offenen – Verweigerns erinnern, wenn offenkundiger Unfug oder erkennbar Falsches, Kontraproduktives in Auftrag gegeben und später gar als vorbildlich gewürdigt wurde. Nahezu alle in den täglichen Mittagssitzungen wechselnden Zeitungseinschätzer waren jedem aufgefundenen Druckfehler dankbar, dessen Geißelung jene Kritik ersetzte, die an der Zeitung oft genug in toto, zumindest aber an wesentlichen ihrer Bestandteile erforderlich gewesen wäre. Eine Debatte solcher Meinungen inklusive – wenn wir sie nur vorgebracht hätten.

Auch vom ND weggegangen sind in all dieser Zeit nur wenige – und wenn, dann unter Nutzung eines Vorwandes, also unter Vermeidung substantieller Offenheit. Dies sagt viel aus über das geistige Klima unter den Genossen als »freiwilliger Kampfbund Gleichgesinnter«. Als wenn der im Buch kolportierte Leitungsstil des letzten Zentralorgans-Chefredakteurs, Herbert Naumann, die Crux der Endphase in ND, SED und DDR gewesen wäre … Der Opportunismus nahezu aller Beteiligten hat den Führungsfiguren erst ermöglicht, ihre schwachsinnige Informationspolitik betreiben zu können, je länger, desto schlimmer: Im ND wie – mehr oder weniger – in allen Sendern und Zeitungsredaktionen des verflossenen Landes. »Was waren wir für Pfejfen, daß wir uns von solchen Pfejfen regieren ließen!«, hat Jens Reich nach der Wende resümiert. Das Gros der öffentlichen Zustimmung zu dieser Erkenntnis bezieht sich bis heute aber weitgehend nur auf die anderen »Pfeifen«

»Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!«, appelliert Marquis Posa in Schillers Don Carlos an den König. Das Stück ist in der DDR gern und oft gespielt worden – es waren ja »Sires« gemeint und nicht Genossen. Daß gerade Gedanken-, also Denkfreiheit, im verblichenen Realsozialismus nahezu durchweg die Liste der strukturellen Defizite anführte, dürfte eine der beschämendsten Realitäten und auch Hinterlassenschaften dessen sein, was man unter den Begriff »Stalinismus« faßt. Beim Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit einst couragiert gestartet, ist der »Tiger« der menschlichen Emanzipation als Bettvorleger gelandet.

Gewiß, auch von unser aller Opportunismus ist im Buch die Rede. In einer Beiläufigkeit allerdings, die in keinem, aber auch gar keinem Verhältnis zur Relevanz dieses Aspektes steht und eher noch ein Opferdasein assoziiert denn Mittäterschaft. Ein Aspekt, der freilich auch über Informationspolitik und SED-Binnenklima hinaus gilt. Sind die berüchtigten Ergebnisse der Kommunal- oder Volkswahlen doch durch mehrheitlich widerspruchsloses Zettelfalten zustandegekommen, und zwar selbst dann, wenn man 20, 30 oder gar 40 Prozent an Betrug beim Auszählen zugrunde legt. Wie schnell das morsche Gebilde des Realsozialismus hingegen zusammenfiel, wenn nur Menschen den Mut fanden, Nein zu sagen zu den ihnen oktroyierten Bedingungen, hat sich gezeigt, als dies dann geschah, in der DDR wie im kompletten europäischen Ostblock.

Ich weiß – kein Mensch gibt gerne eigene Feigheit zu. Nur – gerade, wenn Linke nicht bei der ihr geschichtlich auferlegten Selbstkritik dort beginnen, sind jedwedem Neubeginn gegenüber Zweifel anzumelden.

»Man hat eine Niederlage erlitten. Man ist verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei, die alle Trümpfe in der Hand hatte. Was ist nun zu tun—? Nun ist mit eiserner Energie Selbsteinkehr am Platze. Nun muß, auf die lächerliche Gefahr hin, daß das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist. Nun muß ich auch! ich auch! – gesagt werden: Das haben wir falsch gemacht, und das und das – und hier haben wir versagt. Und nicht nur: Die anderen haben … sondern: wir alle haben.«! Tucholskys verzweifelter Appell in einem Brief an Arnold Zweig im Jahre 1935 lief seinerzeit weitgehend ins Leere. Daran hat sich bei der Linken auch gut sieben Jahrzehnte später nicht viel geändert, das ND-Geschichtsbuch ist dafür nicht einmal der plakativste Ausweis.

Daß die effektive Text-Seitenzahl des Buches in mißlichem Verhältnis zur Abhandlung der sechzigjährigen Geschichte, um die es hier geht, steht, sei nur beiläufig angemerkt. Auch, daß mich der peinliche Eindruck eines Auftragswerkes zur Selbstpräsentation auf Edelpapier samt -preis beschleicht.

Editorische Schwäche oder Absicht?

Déjà-vu nennt man die Wahrnehmung von bekannten Abläufen, auch Geisteshaltungen. Eben »schon mal erlebt« Der nachfolgende, so ganz anders geartete Denkansatz aus dem Jahr 1989 ist jedenfalls weitgehend eine Rarität geblieben.

Dr. Burghard Ciesla, Dirk Külow: »Zwischen den Zeilen. Geschichte der Zeitung ›Neues Deutschland‹«, Das Neue Berlin 2009, 256 Seiten, 24,90 Euro