28. Jahrgang | Nummer 1 | 13. Januar 2025

Das Moderne seiner Kunst erweist sich im Atmosphärischen
– der „Landschafter“ Walter Leistikow

von Klaus Hammer

Er hat mir den ganzen Grunewald versaut“ – ob Kaiser Wilhelm II. das nun wirklich gesagt hat oder ob das ins Reich der Legende zu verweisen ist, dieser Ausspruch bezeugt doch den hohen künstlerischen Stellenwert, den sich der Berliner „Landschafter“ Walter Leistikow um die vorvergangene Jahrhundertwende erworben hatte. Sein monumentales Gemälde „Grunewaldsee“ (1895), heute im Besitz der Berliner Nationalgalerie, sei – so heißt es – 1898 von der Jury der „Großen Berliner Kunstausstellung“ abgelehnt worden. Hier zieht sich von der vorderen Uferzone des Sees der Wald wie ein Schatten durch den Hintergrund, während ein gelborange-farbener Abendhimmel sich im See widerspiegelt. Obwohl das vorgelagerte Ufer und der düstere Wald hinter dem See eigentlich die Sicht versperren, öffnet sich der Landschaftsraum in die Ferne und Tiefe und bewirkt so die Steigerung zu einer großen Landschaft an sich. Doch für solche künstlerische Neuerungen hatte Wilhelm II. natürlich kein Auge; der Grunewald gehörte ihm allein als sein bevorzugtes Jagdgebiet. Aber vermutlich hat Leistikow den „Grunewaldsee“ überhaupt nicht zur „Großen Berliner Kunstausstellung“ eingereicht. Das könnte auch erklären, warum er sich 1898 so sehr bei der Gründung einer unabhängigen Vereinigung, der Berliner Secession, engagierte. 1893 war er erstmals in Paris gewesen und hatte hier nicht nur die französische Moderne studiert, sondern den japanischen Farbholzschnitt für sich entdeckt – das hatte seine Hinwendung zu einem modernen, romantisch-symbolisch geprägten Stil bestärkt.

Die Kunsthistorikerin Nicole Bröhan, Verfasserin von Künstlerbiografien über Max Liebermann und Otto Dix, aber auch über jene Künstlerkolonien, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden waren, hat jetzt einen Bildband über Walter Leistikow vorgelegt, in dem sie die Erkenntnisse ihrer Mutter, Margrit Bröhan, von 1988 auf den neuesten Stand bringt.

Gerade bei der Beschäftigung mit der Landschaft um Berlin standen für den Maler eben auch japanische Holzschnitte mit ihrer flächigen Darstellung von Landschaften Pate. Sie inspirierten ihn zu Gemälden mit großen, ruhigen Partien im Vordergrund, die er allerdings mit unruhigem Pinselstrich belebte. In „Abendstimmung am Schlachtensee“ (um 1895) hat er die Baumstämme bildparallel aufgebaut und wie aus Streifen zusammengesetzt. Man schaut durch sie hindurch auf eine lichtvolle Wasserfläche, eingerahmt von einer dunklen Waldlandschaft, die den Bildvordergrund widerspiegelt.

Diese „gestaltete Leere“, wie Nicole Bröhan schreibt, wendete Leistikow auf unterschiedliche Sujets an: Spiegelungen der Bäume, die das Wasser umgeben, setzte er mit vertikalen Pinselstrichen in Kontrast zu den horizontal gemalten Blättern und vermittelte so den Eindruck, als schwebten sie. Mit dem Widerschein des sich auf der Wasserfläche spiegelnden Himmels konnte er auf das impressionistische Programm reagieren, sowohl den Jahreszeiten zu ihrem spezifischen Ausdruck zu verhelfen als auch den Augenblick zu fixieren. Seine Seen- und Waldlandschaften um Berlin und aus der Mark Brandenburg schlugen den Bogen vom unmittelbaren Moment zum zyklischen Wandel und Wachstum der Natur.

Aber die Verfasserin lässt auch keineswegs in Vergessenheit geraten, dass Leistikow einer der führenden Persönlichkeiten der Berliner Kunstszene, Mitbegründer der Gruppe der XI – das waren elf Maler, die als Künstlerkuratoren selbst über ihre zur Ausstellung eingereichten Werke entscheiden wollten –, und der Berliner Secession, die für eine Internationalisierung der Kunstwelt sorgte, dass er der Freund von Max Liebermann, Lovis Corinth und Edvard Munch war, gegen dessen Ausstellungsschließung in Berlin er 1892 mit dem Aufsatz „Die Affäre Munch“ protestierte, und dass er ein unermüdlich wirkender Kunstförderer war.

Durch die Ehe mit der Dänin Anna Mohr und seine Sommeraufenthalte im Norden Europas eroberte er sich auch die Lebens- und Naturwelt Skandinaviens. Sein „Norwegisches Hochgebirge (Herbst)“ (1897) erinnert an Caspar David Friedrichs „Watzmann“ (1824-25). Beide Werke sind visionäre Sinnbilder göttlicher Majestät und Unnahbarkeit. Während im Vordergrund die Felsklippen in Helligkeit und Dunkelheit, in Bewegung erscheinen, erhebt sich dahinter ein gewaltiges Bergmassiv in ewiger Ruhe.

Wie Friedrich hat Leistikow das Sehen, das Schauen, das Reflektieren zum Thema seiner Malerei gemacht. Und wir sollen uns aufgefordert fühlen, es ihm gleich zu tun. In seinem „Haus in Dänemark“ (1898) wiederum wölben sich gewaltige, geschlossene Baumgruppen über ein schlichtes Haus – oder stellen sie nicht eher eine Bedrohung für die menschliche Behausung dar? Grüne, erdfarbene Flächen ziehen den Blick in die Tiefe, über allem ein rötlich gelber – eher brandiger? – Himmel. An der Küste Dänemarks sammelte Leistikow Eindrücke für seine Seestücke, in denen das malerische Ereignis in die Abstraktion übergeht. „Meer bei untergehender Sonne“ (um 1902) – als eine „leuchtende, expressive Farblandschaft in Orange-, Gelb-, Grün- und Blautönen“ beschreibt sie unsere Verfasserin. Während Leistikow die Seenlandschaft in und um Berlin in ruhigem Wasser durch Spiegelungen von Himmel und Landschaft darstellt, haben die Meereslandschaften etwas Erhabenes, Bewegtes. Firmament und Wasser gehen ineinander über. Mitunter fliegende Kraniche, Raben, Schwäne wirken wie aus dem Japanischen direkt in Leistikows norwegischen Bildern versetzt.

Gegenüber den Gemälden spielen die Druckgrafik, die schriftstellerischen und kunsthandwerklichen Arbeiten Leistikows, die zwischen 1896 und 1900 entstanden, nur eine untergeordnete Rolle. Tragisch sein Ende: 1908, auf dem Höhepunkt des Erfolges, mit 42 Jahren, schied er aus dem Leben. Er wollte nicht durch das Fortschreiten seiner damals unheilbaren Erkrankung seiner Familie zur Last fallen.

Zwei Pole der künstlerischen Auffassung Leistikows sieht Nicole Bröhan in den 1890er Jahren als dominant an: Einerseits haben wir es mit einer neoromantisch inspirierten Stimmungsmalerei zu tun, andererseits verwendet der Maler dekorativ-stilisierende Elemente. Doch dann entfernt er sich immer mehr von der Tendenz zur dekorativen Stilisierung. Seine Landschaften sind zwar nach wie vor stimmungsvoll, nähern sich aber wieder einer naturalistischen Auffassung. Sie sind nun weniger symbolistisch aufgeladen. Schauen wir uns noch einmal „Abendstimmung am Schlachtensee“ an: Vor vereinzelten, hoch aufragenden Kieferstämmen öffnet sich der See, in den bewaldete Ufer hineinragen, während der von der Sonne angestrahlte Himmel den Hintergrund ausmacht. Die Spiegelung der Sonne, der Wolken und der Ufer auf dem Wasser erinnert an Munchs typische Lichtsäule, die als fahler Glanz wie ein Ausrufezeichen die Beziehung zum Kosmos andeuten soll. Das Wasser ist nur leicht bewegt, die Stille des anbrechenden Abends füllt das Motiv ganz aus. Doch bei Leistikow entsteht ein weiter Bildraum, dem nichts Bühnenartiges, kulissenhaft Gestaffeltes wie bei Munch anhaftet. Der Betrachter kann seinen Blick weit in den eigentlichen Bildraum wandern lassen. Bei dem Kontrast zwischen gebogenen und starren Formen, dem Verhältnis von geschwungenen Ufer- und auch Hügellinien zur starren Gliederung durch die Baumstämme geht es Leistikow immer um eine ausgewogene Komposition. Nicole Bröhan sieht in dem sanften Oval des Seespiegels ein typisches Merkmal von Leistikows Seedarstellungen. Der Betrachter wird durch die jeweilige Empfindung, die das Motiv bei ihm auslöst, einbezogen, er ist indirekt anwesend – es ist dieses Atmosphärische, das Stimmungshafte, das uns bis heute in Leistikows  Bildern ergreift. Seine überzeugenden See- und Walddarstellungen können zum Spiegel der seelischen Verfassung des Betrachters werden.

 

Nicole Bröhan: Walter Leistikow. Künstler der Moderne, BeBra Verlag, Berlin 2024, 144 Seiten, 26,00 Euro.