27. Jahrgang | Nummer 26 | 16. Dezember 2024

Das 29. Jahr

von Heidemarie Hecht

Es ist fast Weihnachten, als Carl v. Ossietzky durch die Amnestie Hindenburgs 1932 das Gefängnis in Berlin-Tegel verlassen kann. Sein erster Weg führt zum Bäcker, er kauft Kuchen und schickt ihn denen, die im Gefängnis bleiben mußten. Dann geht er in die Redaktion der Weltbühne, in die Charlottenburger Kantstraße und nimmt seine Arbeit wieder auf. Die Sitzung geht weiter, erklärt er in seinem ersten Beitrag.

Zwei Monate bleiben ihm. Carl v. Ossietzky hat wenig Illusionen über seine Zukunft. Es ist keineswegs Koketterie, wenn er den vielen, die ihm zu seiner Freilassung gratulierten, versichert, „daß alles, was ihm jetzt an Nettigkeiten zuteil wurde, gleich für das nächste Mal mit gelten soll“. Schon im Heft 10, vom 7. März, müssen die Mitarbeiter der Weltbühne mitteilen: „Nach den Ereignissen des 27. Februar [Reichstagsbrand – die Redaktion] wurde eine Reihe von Persönlichkeiten verhaftet, unter denen sich auch der Herausgeber unseres Blattes, Carl von Ossietzky, befindet.“

Vor mir liegen diese zehn letzten Hefte der Weltbühne, die 1933, im 29. Jahrgang, in Deutschland erscheinen konnten. Blaßroter Einband, hie und da schon brüchig geworden, einige Hefte noch mit dem weißen Aufkleber, der die Schlagzeilen brachte. Auf den Rückseiten vermischte kleine Anzeigen, auch Werbung für „Billige Winterreisen nach Sowjetrußland“ und für Bücher des MOPR-Verlags Berlin, des Verlags der Internationalen Roten Hilfe.

Wie sah das Blatt aus in jenen entscheidenden Tagen, da die Schikanen wuchsen, da bald die Pressezensur eingeführt und immer mehr Zeitungen verboten wurden? Wie liest sich die Weltbühne, als immer mehr sich der Sklavensprache halbgeflüsterter Andeutungen zu bedienen beginnen?

Anfang 1933 scheint es vielen, als sei die Gefahr des Faschismus an Deutschland vorbeigegangen. Nur die KPD warnt vor der Annahme, daß mit der faschistischen Niederlage in der Novemberwahl zugleich der Abstieg der NSDAP beginnen müsse.

Auch die Weltbühne schreibt am 17. Januar: „Die NSDAP lebt noch – und ist doch schon tot – mindestens angetötet … Adolphus Imperator Rex, Herr der Heerscharen – sein Nekrolog sei hier erspart: Adolphus ist der Mann der verpaßten Gelegenheiten: das Jahr 32 hat sie ihm massenhaft geboten. Er schlug nicht ein. Er schlug aus.“

Wenn die Weltbühne in jenen Tagen den Faschismus unterschätzt – über die Kontinuität der Entwicklung nach rechts läßt sie ihre Leser nicht im Unklaren, über die Folgerichtigkeit, mit der von Notverordnung zu Notverordnung der Weg in die Diktatur führt. Carl v. Ossietzky am 3. Januar: „Freiheit und Versöhnung – Märchen, die nicht so lange wie dieser Winter währen werden.“ Und er empfiehlt, da die „Krise der Nazis … vor allem eine finanzielle“ sei, „in der nächsten Zeit auch auf die Taschen zu achten. Wer sie wieder füllen kann, der wird auch die Partei haben“.

Zwei Wochen später bringt die Weltbühne folgende Rechnung über die „größte Firma Deutschlands“: „Dem Doktor Goebbels zufolge gibt die NSDAP etwa 80000 Menschen Arbeit und Brot. Nüchterner gesagt: sie hat 80000 besoldete Parteiangestellte. Demgegenüber ist zu vermerken, daß die SPD … 1410 Personen besoldet … Bei der KPD dürfte es noch weniger besoldete Stellen geben …“

Und wer gibt das Geld? Wer steht hinter der Rechtsentwicklung? „Das Junkertum fühlt sich in seinen wirtschaftlichen Wurzeln bedroht, deshalb greift die Kamarilla offen nach der Staatsführung. Dazu gesellten sich Großindustrielle, die eine neue Konjunktur schnuppern …“ Da scheint es fast gleich, welche reaktionäre Gruppierung unterstützt wird: „Ob sich Schleicher mit Adolf verträgt oder mit Gregor [Gregor Strasser, Organisationsleiter in der NSDAP – die Redaktion] gegen Adolf, ob er mit Hugenberg regiert oder ihn an die Wand quetscht – das Prinzip ist immer das gleiche. Es heißt immer Autorität und Militarismus gegen Demokratie, Sozialismus, Republik, es heißt immer Herrenschicht gegen Volk …“

Dann wird Hitler Reichskanzler. Eine Woche später, am 7. Februar, charakterisiert Ernst Thälmann in Ziegenhals die neue Regierung als die offene faschistische Diktatur und warnt vor allen legalistischen Illusionen und vor jeglicher Unterschätzung dieser Diktatur.

Am gleichen Tag erscheint die Weltbühne Nummer 6. „Wer heute Politik treiben will“, heißt es da, „der muß die Dinge sehr nüchtern betrachten, gleich weit entfernt von Panik wie von unbegründetem Optimismus. Vor allem wäre es töricht, jetzt auf die Uneinigkeit der Reaktion zu bauen. Man darf nicht vergessen, daß die Gegenrevolution ihre letzte und höchste Karte ausgespielt hat und daß die Furcht vor der Niederlage sie besser zusammenhalten wird s jedes positive Ziel.“

Und Carl v. Ossietzky nennt die Ziele: „Jetzt haben sie (Herr Reichskanzler) den Restbestand des deutschen Kapitalismus zu konsolidieren, den Großgrundbesitz zu retten, die Ansätze zur Gemeinwirtschaft wieder rückgängig zu machen.“ Trotzdem, Illusionen bleiben, Hoffnungen auf Differenzen zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten, auf „soziale Disharmonien“ innerhalb der NSDAP, vor allem auf die Macht der ökonomischen Tatsachen, denen sich auch die Faschisten nicht würden entziehen können.

Einen Gedanken aber findet man immer wieder: Letztlich werden nicht bürgerliche Kräfte die braune Gefahr bannen, sondern nur die geeinte Arbeiterklasse. Schon vor dem 30. Januar hatte die Weltbühne zur Aktionseinheit gemahnt, jetzt werden die Aufrufe fast beschwörend. Das Blatt berichtet über zaghafte lokale Anfänge einer Einheitsfront, alle Hoffnung liegt auf dem Proletariat, das „noch kampffähig und vor allem kampfwillig“ ist. „Der Hort deutscher Freiheit und deutscher Zukunft ist jetzt allein das organisierte Proletariat“, heißt es schließlich. „Ihm beizustehen – auch mit Geld! –, seinen Opfern zu helfen, seine Sorgen zu teilen, seinen Geist zu begreifen, sollte heute auch die Pflicht jener liberalen Bourgeoisie sein, die Kultur stets als den höchsten Wert eines Zeitalters bezeichnet hat.“

Nun also steht die Weltbühne auf der Position, zu der sich Carl v. Ossietzky wenige Tage später vor dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller bekennen wird, als er sich an die Seite der Arbeiterklasse stellt: „Die Flagge, zu der ich mich bekenne, ist nicht mehr die schwarz-rot-goldene dieser entarteten Republik, sondern das Banner der geeinten antifaschistischen Bewegung.“

Carl v. Ossietzky ist ebensowenig ein Kommunist geworden wie sich die Weltbühne auf die Position der KPD stellt. Aber er hat erkannt, daß der Faschismus nur besiegt werden kann im Bündnis aller progressiven Kräfte, gemeinsam mit dem Proletariat. Später, unter Verfolgung und im Konzentrationslager, wird mancher aus der Führung der SPD und in den bürgerlichen Parteien diese Erkenntnis gewinnen, der im Februar 1933 Ossietzkys Standpunkt nicht teilte.

Wenn Carl v. Ossietzky in seinem Bekenntnis davon sprach, daß er in der Vergangenheit „auch nach links“ gekämpft habe – im 29. Jahrgang der Weltbühne findet man keine Angriffe gegen links. Im Gegenteil. In einem längeren Beitrag werden die Erfolge des ersten Fünfjahrplans in der Sowjetunion hervorgehoben: „Unter größten Entbehrungen schmiedet Rußland seine Zukunft, um sein Ideal, den Sozialismus in einem einzelnen Lande, zu verwirklichen. Sollte der zweite Plan auch nur annähernd gelingen …, dann kann Rußland eine Großmacht erster Ordnung werden, eine Hochburg der Revolution, von wo aus die feindliche Welt des Kapitals geschlagen werden soll. Der Aufstieg Rußlands ist somit zweifellos ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung.“

In der neugeschaffenen Rubrik „Wochenschau des Rückschritts – Wochenschau des Fortschritts“, die bald in „Verlustliste“ umbenannt werden muß, erscheinen immer häufiger Meldungen, die die Arbeiterbewegung betreffen – Mitteilungen über Verbote von Versammlungen, von Zeitungen. „Das Karl-Liebknecht-Haus und andre Räume kommunistischer Organisationen wurden durchsucht.“ – „Die Trauerdemonstrationen für die drei ermordeten berliner kommunistischen Arbeiter wurden verboten.“

Am 4. Februar verhängt der Reichspräsident eine scharfe Pressezensur, Versammlungen und Zeitungen der antifaschistischen Kräfte werden unter Ausnahmegesetz gestellt, die ersten Zeitungen verboten. Jedes Wort muß jetzt wohlüberlegt sein. „Mit Neid“, heißt es am 21. Februar, „blicken Journalisten jetzt auf so gefahrlose Berufe, wie sie Seiltänzer oder Dachdecker ausüben.“ Trotz Vorsicht, die Mitarbeiter der Weltbühne sagen, was gesagt werden muß. Sie stellen Fragen – nach wirtschaftlichen Leistungen der neuen Regierung, nach Arbeitsbeschaffung, nach den Rechten der Gewerkschaften. „Wenn die Menschen nicht mehr fragen dürfen“, so Carl v. Ossietzky, „dann werden die Dinge fragen.“

Nach der neuen Außenpolitik zum Beispiel. Hellmut v. Gerlach liest in „Mein Kampf“ über Hitlers Ziele: „Also – gen Ostland wollen wir reiten! Wie weit, wird nicht spezialisiert. Auf Rußland ist Hitler sehr schlecht zu sprechen. Er nennt die Regenten des heutigen Rußland ,blutbefleckte, gemeine Verbrecher, den Abschaum der Menschheit‘. Aber Rußland grenzt nicht an Deutschland. Wenn Deutschland durch seine Ostpolitik die ihm notwendige Scholle erwerben soll, wird es die zwischen Deutschland und Rußland liegenden Staaten nicht gut auslassen können. Daß die an Deutschland grenzenden Teile Polens nicht volksleer, sondern sogar doppelt so stark bevölkert sind wie die deutsche Ostmark, weiß Hitler natürlich. Wo soll daher, selbst wenn wir staatsrechtlich in den Besitz gewaltiger Landstrecken im Osten kämen, Siedlungsraum für deutsche Bauern herkommen?“

Fragen über Fragen. Die Mitarbeiter der Weltbühne rechnen auf ihre Leser, die Antworten suchen werden.

Nirgends in den Heften dieser Zeit findet sich ängstliches Zurückweichen, klar und deutlich ist das Bekenntnis zum Humanismus, zum Antifaschismus. Selbst wenn Ossietzky nur die Kultur verteidigt, etwa gegen den „Wahn“ der Wagneroper, gegen deren „grauenhafteste Trivialität“, entsteht ein Bekenntnis gegen den Ungeist dieser Zeit: „Zum zweitenmal soll aus Deutschland eine Wagneroper werden, Siegmund und Sieglinde, Wotan, Hunding, Alberich und der ganze Walkürenchor und die Rheintöchter dazu sind – Heiajaheia! Wallalaleia heiajahei! – über Nacht hereingebrochen mit der Forderung, über Leiber und Seelen zu herrschen. Die künstlerische Seite dieses Programms billigen wir nicht …, aber das ist Sache des Kunstgeschmacks, also Privatsache. Die andre Seite dieses Programms ist es dagegen nicht. Wir werden also etwas unternehmen müssen, da nicht zu erwarten ist, daß eine reine Jungfrau, um uns zu erlösen, ins Wasser springt.“

Unnötig zu sagen, mit welcher Konsequenz Carl v. Ossietzky bereit ist, gegen diese braune Diktatur „etwas zu unternehmen“. Mitarbeiter der Weltbühne gehören zu den ersten, die in die Emigration gehen müssen. Von dort setzen sie den Kampf fort. Noch Jahre später schreibt die Gestapo: „Die Mitarbeiter an dieser Zeitschrift stammten ausschließlich aus Kreisen, die sich an volksfeindlicher Einstellung und grenzenlosem Haß gegenseitig zu überbieten versuchten, wenn es darum ging, lebenswichtige Belange des Reiches zu verraten und die Ehre des deutschen Volkes in den Schmutz zu ziehen.“ Über dieses Zitat muß man wohl kein Wort verlieren.

Am 7. März 1933 erscheint die letzte Ausgabe der Weltbühne. Es ist die Nummer 10 des 29. Jahres.

Weltbühne 9/1983. – Heidemarie Hecht, die der Übernahme freundlicherweise zugestimmt hat, war nicht nur Weltbühne-Autorin, sondern von 1973 bis 1993 auch Mitglied der Redaktion.

Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.