Wer kennt sie nicht, die zwei Ameisen, die nach Australien reisen wollen, den Bumerang, auf den das Publikum noch stundenlang wartet, oder den stets betrunkenen und wild krakeelenden Seebär Kuttel Daddeldu. Hans Bötticher, der Seemann aus dem sächsischen Wurzen, der sich später Joachim Ringelnatz nannte und als Beruf „reisender Artist“ in Formulare und Meldezettel eintrug, lebt auch neunzig Jahre nach seinem Tode am 17. November 1934 in unserem Bewusstsein als Autor heiterer, ironisierender, mitunter grotesk-skurriler Gedichte, die noch heute in keiner deutschen Lyrikanthologie fehlen.
Zu seinem 90. Todestag versucht der Journalist und Kabarettist Ulf Annel, die abenteuerliche Biografie von Ringelnatz anhand von Anekdoten nachzuzeichnen. Auf gut 100 Seiten hat er wahrhaftig wahre und höchstwahrscheinliche Geschichten aus dem Leben des Joachim Ringelnatz zusammengetragen, die dieser teilweise über sich selber geschrieben hatte. Die Anekdoten und Geschichten hat Annel auch in Archiven, Zeitschriften und anderen Veröffentlichungen aufgespürt. Dabei hat er sich entschieden, „den Ringelnatz in der Anekdotensammlung von Anfang an so zu nennen und den Hans Bötticher vorsichtig daneben zu legen, auf dass er zwar existent bleibe, aber dem Ringelnatz den Vortritt lasse“.
„Ich bin etwas schief ins Leben gebaut“, hat Ringelnatz einmal von sich selbst gesagt, und so sind die anekdotischen Begebenheiten etwas schief und humorvoll, aber auch durchaus mit ernstem Hintergrund. Bereits in der Kindheit heckte er mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Ottilie Streiche aus. Sie brachten ein totes Huhn nach Hause oder verdienten mit einem Guckkasten-Theater ein paar Pfennige. Seine erste Veröffentlichung, die Kurzhumoreske „Änne Heringsgeschichte“ im sächsischen Dialekt, brachte ihm zwanzig Mark ein und die Erkenntnis, dass man auch mit Humor sein Geld verdienen kann.
Ringelnatz packte häufig das Fernweh – ob als Seemann oder als wandernder Musikant, wo er über Holland per Dampfer weiter wollte. Bei einem Parisbesuch wollte er sich auf Französisch bei einem Passanten nach der Mona Lisa erkundigen. Völlig erstaunt antwortete ihm dieser im sächsischen Dialekt. Als Ringelnatz von einem Schweizer Bewunderer ein goldenes Hundertfrankenstück geschenkt bekam, schwor er, die Münze als Andenken zu behalten. Doch bereits am nächsten Tag verflüssigte er das Andenken.
Ringelnatz wäre nicht Ringelnatz gewesen, wenn er das Thema Werbung nicht ironisch bedichtet hätte. Einmal gehörte er zu den Gewinnern eines Preisausschreibens der sächsischen Badewannenfirma Krauss um den besten Werbetext. Sein Zweizeiler „Mir ist der Name Krauss ein Schreck. Ich bade nie. Ich liebe Dreck.“ führte zu einem Verkaufsrekord.
Der eigentlich unpolitische Ringelnatz fand Anfang der dreißiger Jahre, als seine Auftritte verboten und seine Bücher in den Buchhandlungen beschlagnahmt wurden, zu tagesaktuellen Kommentaren, wenn auch nur in den Briefen an seine Frau. So blickte er zum Jahreswechsel 1932/33 prophetisch in die Zukunft: „Hitler ist natürlich ein Unstern für uns.“ Als Berliner Künstler für Ringelnatz, bei dem eine lang verschleppte Tuberkulose ausgebrochen war, für seine Heilbehandlung gesammelt hatten, hätte das Geld für ein halbes Jahr gereicht. Ringelnatz nutzte aber leider nur die Hälfte. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide und er starb im Alter von einundfünfzig Jahren in seiner Berliner Wohnung am Sachsenplatz. Drei Tage später wurde er auf dem Berliner Waldfriedhof an der Heerstraße beigesetzt. Der Schauspieler Paul Wegener sprach die Abschiedsworte.
Die humorvolle Anekdotensammlung möchte den interessierten Lesern einen ebenso faktentreuen wie amüsanten Blick auf seine Biografie anbieten. In ähnlicher Aufmachung sind im Eulenspiegel Verlag bereits mehrere Anekdotensammlungen erschienen, zuletzt zu Theodor Fontane (2019) und E.T.A. Hoffmann (2021).
Ulf Annel: Joachim Ringelnatz – Ein Lebensbild in Anekdoten. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2024, 128 Seiten, 15,00 Euro.
Schlagwörter: Anekdoten, Joachim Ringelnatz, Manfred Orlick, Ulf Annel