Den Titel „Gerds Geigen und Gitarren“ trug eine Langspielplatte, die ich zum 16. Geburtstag geschenkt bekam. Eigentlich wollte ich Beat-Musik haben, und zwar von Natschinskis ältestem Sohn Thomas, der mit seiner Gruppe Team 4 gerade die Hitparaden des Ostens stürmte. Aber weder meiner Mutter noch dem Verkäufer war der kleine Unterschied in den Vornamen aufgefallen. Außerdem hatte „Gerds Geigen und Gitarren“-LP ein hübsches, stilisiertes Blumenmuster in Rot und Gelb als Cover, während die Veröffentlichung von Team 4 nur eine Single war und darauf vorn ungepflegte Langhaarige zu sehen waren. Das konnte und wollte meine Mutter nicht gutheißen.
Ich sollte Gerd Natschinski noch persönlich kennenlernen. Gelegentlich schaute er in Leipzig beim Komponistenverband vorbei und hörte sich geduldig und freundlich die meist kammermusikalischen Werke von uns jungen Neutöner-Komponisten an. Natschinski war einst Meisterschüler von Hanns Eisler und hatte neben seinen vielen Funktionen und Aufgaben auch noch den Posten des Vizepräsidenten des ostdeutschen Komponistenverbandes inne (1977-1989). Er erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen. Ferner war er Präsident und ab 2013 Ehrenmitglied der Dramatiker Union und Ehrenmitglied des Beirates der Franz-Grothe-Stiftung.
Wir mochten uns, denn ich spielte zur Aufbesserung des Stipendiums oft und gerne Gitarre im Orchester der Musikalischen Komödie, also im Operettentheater der musik- und theaterliebenden Stadt an der Pleiße. Das brachte mir bei meinen eher avantgardistisch orientierten Studienkumpeln zwar eine gewisse Herablassung ein, bei Gerds Natschinski aber eher Sympathie. Natschinski hatte das kompositorische Konzept entwickelt, seiner Musik clever gebaute, schwungvolle Melodien und schwelgerische Klänge zuzugestehen, aber darunter flotte Beats laufen zu lassen. Mein Klavierprofessor und erster Kapellmeister an der Leipziger Musikalischen Komödie sagte oft zu mir: „Schauen Sie sich die Natschinski-Partituren an. Die sind anders gemacht als die anderen Ost-Musicals und sie klingen besser. „Besser“ klingen hieß für ihn, dass die Titel amerikanischer, jazziger, frecher und moderner klangen. „Schmissig“ nannte man das damals.
Natschinski selbst sagt dazu: „Das Wichtigste war zu versuchen, das eigene Schaffen kontinuierlich durchzusetzen, auch den eigenen Stil. Und wenn auch im sozialistischen Bereich der amerikanische Stil als ‚typisch kapitalistisch’ verpönt war, dann hat man trotzdem auf Vorbilder wie Henry Mancini und Nelson Riddle geschaut und sich an ihnen orientiert. Ich wurde oft gefragt, ob wir uns die westdeutschen Kollegen und ihre Hits zum Vorbild genommen haben. Meine Antwort lautete: ‚Wir haben uns mit ihnen gemeinsam die großen Amerikaner zum Vorbild genommen!’“
Leipzig war ein gutes Pflaster für die leichte Muse des Ländchens insgesamt, aber auch für Gerd Natschinski persönlich. Der 1928 in Chemnitz geborene und in Dresden aufgewachsene Komponist begann seine Musikkarriere in Leipzig, wo er mit erst 20 Jahren sein eigenes Unterhaltungsorchester leitete und regelmäßig Rundfunk-Sendungen beim MDR auch mit eigenen Werken dirigierte. Anfang der 1950er Jahre entstand für die DEFA seine erste Filmmusik, hier wurde der Komponist Hanns Eisler auf ihn aufmerksam.
Gut 70 Filmmusiken („Hart am Wind“) und 400 Schlager und Chansons („Die Rose war rot“) stammen von Gerd Natschinski. Und mit „Mein Freund Bunbury“ (1964) schrieb er Geschichte. Natschinski selbst schätzt sein Schaffen so ein: „Ich bin ein Theater- und Filmkomponist, der sich in die Situation der Akteure versetzt. Dem entsprechend gestalte ich musikalisch die Handlung. Sogar viele meiner Lieder habe ich unter einem dramatischen Gesichtspunkt konzipiert, auch wenn sie in keinem Film oder Theaterstück zuhause waren … Ein weiteres Erfolgsgeheimnis ist: ‚Nicht mehr verlangen, als die Praxis hergibt!’ Wenn ich weiß, dass ein Theaterorchester nur eine beschränkte Probenzahl zur Verfügung hat, dann kann ich in ein Musical keine halsbrecherischen Passagen hineinschreiben, sondern muss mir andere Highlights einfallen lassen. Das betrifft auch die Anforderungen an die Sänger. Meine Bühnenwerke sind fürs mitteleuropäische Ensemble-Theater komponiert.“
Sein erster großer Erfolg war die Operette „Messeschlager Gisela“, die 1960 im Metropoltheater Berlin uraufgeführt und später verfilmt wurde. Nach der Wende kam das Stück in der Neuköllner Oper (1996) sowie im Museumspark Rüdersdorf (2014) und 2024 im Zirkuszelt am Alexanderplatz durch das Ensemble der Komischen Oper Berlin wieder und mit großem Erfolg auf die Bretter.
1964 folgte das erste von Natschinski komponierte DDR-Musical „Mein Freund Bunbury“, welches er mit den Librettisten Jürgen Degenhardt und Helmut Bez realisierte. Natschinski prägte auch mit seinen Kinder- und Jugendliedern sowie seiner einzigartigen Rolle in der DDR-Unterhaltungsmusik der 1960er- und 70er-Jahre eine ganze Generation, „Heißer Sommer“ (Verfilmt mit Chris Doerck und Frank Schöbel) aber auch Melodien wie „Die Heimat hat sich schön gemacht“ und „Blaue Wimpel im Sommerwind“ gehören zu seinem Oeuvre.
Sein wohlverdientes Ständchen, oder besser gesagt, seine zahllosen Ständchen hat er sich selbst geschrieben. Und Geigen und Gitarren werden wohl immer um ihn gewesen sein und es auch immer bleiben. An Gerd Natschinski kann man sehen, dass die Musik jung und frisch erhält, ein langes Leben beschert und mancherlei Gram und Sorgen fernhält.
Nun hat sich sein Sohn Lukas Natschinski aufgemacht, die Lieder des Vaters wiederzubeleben und singend und am Piano mit dem Konzertprogramm „ROTE ROSEN – Erinnerungen an Gerd Natschinski“ durch (Ost-)Deutschlands Clubs und Theater zu ziehen. Der Erfolg setzte sofort ein, denn offenbar hatte der junge Entertainer einen Nerv getroffen, nicht nur, indem er die verschütteten Lieder wieder neu zum Leben erweckt, sondern auch in der locker-unverkrampften Art der Präsentation. Denn das Publikum spürt die große Liebe und den künstlerischen Respekt, die der Sohn den Melodien seines Vaters entgegenbringt. Das Programm bietet aber auch viele interessante Informationen zur Entstehung der Lieder, aber auch ganz persönliche Geschichten aus dem Leben der Komponistenfamilie. Dazu spielt Lukas Natschinski wundervolle jazzige Kompositionen von sich selbst. Er selbst sagt dazu: „Das Konzert hat einen intimen Charakter und regt die Menschen an, mitzusingen und mit der Musik von Gerd Natschinski ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen. Da sehe ich immer wieder, wie viele Menschen die Musik von meinem Papa lieben.“
Die CD „Rote Rosen“ von Lukas Natschinski mit Werken von Vater und Sohn ist im Label Lukas Natschinski erschienen.
Schlagwörter: DDR-Musik, Gerd Natschinski, Komponist, Lukas Natschinski, Rote Rosen, Walter Thomas Heyn