27. Jahrgang | Nummer 21 | 7. Oktober 2024

Plädoyer für einen Stein auf Weimars Herzen

von Detlef Jena

Wer freut sich nicht, wenn ihm ein Stein vom Herzen fällt! Im vorliegenden Fall wäre es allerdings wünschenswert, wenn der Stein erst einmal auf dem Herzen Weimars läge. Es geht dabei nicht um die finale Auflösung des ewig hübschen Rätsels über die zärtliche Liebe und den schnöden Bruch, die Goethe und Charlotte von Stein lebenslang mit Inbrunst gepflegt haben. Die deutsche Literaturgeschichte und die Klassikerstadt ziehen aus dem Geheimnis wahrlich reichhaltigen Gewinn. Das Opfer dieser pikanten Weltliebe jedoch wird bis auf den heutigen Tag zu Unrecht und höchstens als Kollateralschaden an den Rand der Weimar Saga gekehrt. Es handelt sich um Charlottes Lieblingssohn Gottlob Friedrich Konstantin von Stein, 1772 in Weimar geboren und 1844 in Breslau gestorben.

Alle, die von ihm hörten, nannten und nennen ihn burschikos Fritz von Stein. Obwohl es aus Goethes Umfeld kaum einen beachtenswert erscheinenden Menschen gibt, der nicht literarisch oder zumindest publizistisch vermarktet worden ist, Fritz musste seine wichtigsten Kindheitserlebnisse in Weimar selbst skizzenhaft aufschreiben, und die einzige zielgerichtete biografische Arbeit über ihn ist nur im zweiten Sammelband „Schlesischer Lebensbilder“ erschienen. Das rührt wohl daher, dass der kleine Fritz zunächst Goethes Liebling war, bei ihm wohnen durfte und allein aus dieser Nähe zum Genie für einen künftigen Exzellenzkader in der politischen Administration des überschaubaren Weimarer Reichs gehalten wurde.

Doch Undank ist bekanntlich der Welten Lohn! Der zum Juristen ausgebildete Fritz, der obendrein in Hamburg und England (heute würde man sagen) BWL studiert hatte, zog den preußischen Staatsdienst vor und ließ sich in Breslau nieder. Die Weimarer Damenwelt reagierte angeblich empört! In Wirklichkeit verzankte sich lediglich die streitsüchtige Charlotte von Stein mit der Herzogin Louise, weil ihr geliebter kleiner Fritz die Bande zum Mutterherzen durch seinen Weggang zu den bösen Preußen so arg strapazierte und obendrein das familiäre karge Budget über die Maßen belastete. Goethe dagegen wünschte dem einstigen Ziehsohn Erfolg im selbständigen Leben – im preußischen Schlesien, diesem zehnfach interessanten Land, wie er meinte, obwohl er Breslau 1790 fluchtartig hatte verlassen müssen – natürlich wegen einer Affäre …

Fritz dagegen ankerte dauerhaft in Schlesien. Er stieg über persönliche Höhen und Tiefen zu achtenswerter gesellschaftlicher Reputation auf und blieb gleichzeitig, obwohl man in Weimar seine wahren Leistungen weder verstand noch anerkannte, seiner Heimatstadt bis an das Lebensende herzlichst verbunden. Ihm war es sogar zu verdanken, dass viele Dokumente der Liebe Goethes zu Charlotte der Nachwelt erhalten blieben.

Doch seine Lebensleistungen reichen weit über den innigen familiären Zug nach Weimar hinaus, wenn man nur den Grundsatz anerkennt: Nicht jedes Küken aus Goethes Nest schlüpfte hinaus, um dem Meister ebenbürtig zu werden. Im Gegenteil: Das Genie ist nur ein Genie, weil es einsam bleibt in seiner Höhe! Fritz von Stein ist historisch bedeutsam, weil er erfüllte, was er konnte.

Er kam in ein bettelarmes Land, das Friedrich der Große in den Schlesischen Kriegen ruiniert hatte. Um aus dem wirtschaftspolitischen Kollaps herauszufinden, veranlasste der Alte Fritz 1770 die Gründung der „Schlesischen Landschaft“, einer solidarischen Kredit- und Darlehensgesellschaft des schlesischen Adels. Sie dominierte über Jahrzehnte hinweg die Finanz- und Wirtschaftspolitik Schlesiens. Fritz von Stein wurde mitten in der Zeit der brutalsten Bedrängung durch Napoleons Kriegszüge als Generallandschafts-Repräsentant in den engsten Führungszirkel gewählt. In Weimar hielt man diese Wahl für ein schillerndes gesellschaftliches Ereignis ohne nennenswerte Bedeutung. Weit gefehlt!

Stein hatte sich für die Aufgabe empfohlen, weil er nicht nur selbst ein Landgut besaß, sondern zuvor acht Jahre lang im Dienste des Königs die Breslauer „Kunst- und Kunstgewerbeschule“ geleitet hatte, die ein künstlerisches Anliegen und Profil besaß, dessen Niveau sich vor dem späteren Weimarer Bauhaus nicht verstecken muss. Und vor allem: Stein hatte 1807 diesen Dienst quittiert, weil er unter der französischen Besatzung nicht bereit war, seinen Eid auf den preußischen König zu brechen. Das musste belohnt werden! Im Herbst 1809 reiste Stein von Breslau nach Königsberg und hielt sich dort mehrere Monate im direkten Umfeld seines Königs auf. Im permanenten Kontakt mit allen entscheidenden preußischen Politikern und Ministerialbeamten suchte er vergeblich nach einer neuen Festanstellung. Es erging ihm ähnlich wie der späteren Kaiserin Augusta, der Tochter des Weimarer Großherzogs Carl Friedrich. Am preußischen Hof der Hohenzollern mochte man keinen Ableger aus Goethes und Schillers Weimar! Da unterschied sich der große Wilhelm von Humboldt nicht von seinem König. Humboldt lehnte Steins Bemühung um einen Direktionsposten im Innenministerium schlichtweg ab. Aber man konnte ihn sehr wohl brauchen. In den Gesprächen, die Stein führte, wurden immer wieder Humboldts Pläne zur Eröffnung einer Berliner Universität berührt. Die Frage der Finanzierung spielte dabei eine wichtige Rolle. Stein hütete sich, seinem persönlichen Tagebuch diesbezügliche Details anzuvertrauen. Aber eine Information hielt er doch fest. Die schlesischen Krondomänen sollten bei der Finanzierung der Universität einspringen. Das war natürlich ein Problem, das die „Schlesische Landschaft“ unmittelbar berührte und in der sich der grundbesitzende, königstreue Fritz von Stein bewähren konnte. Er hatte ja durch seine Weimarer Vergangenheit und Humboldts Nähe zu Goethe einen besonderen Hang zu Kunst und Wissenschaft. Justament gerade im Jahre 1810 wurde er denn auch in die Spitze der „Schlesischen Landschaft“ gewählt.

Dafür sprach noch eine zweite Voraussetzung. Schlesien besaß mit der „Leopoldina“ nur das Fragment einer Universität. Auch in Breslau wurde eine Universitätsgründung vorbereitet, die 1811 erfolgte und dabei auf ein nicht zu unterschätzendes und direkt konkurrierendes Bildungsbürgertum stieß. Denn schon 1803 war die unabhängige „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ entstanden, deren Leitspruch „Vaterland und Natur“ lautete. Es wurde eine Erfolgsgeschichte auf allen Wissensgebieten des Bildungsbürgertums. Der ferne Goethe schrieb wohlwollend, „[…] daß ihm kein gemeinnütziger Verein bekannt sey, wo mit solcher Ausdauer und mit solchem Erfolge so mannichfaltige Zwecke verfolgt würden, wie es wirklich in der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur stattfindet“.  Diese weise Erkenntnis trug ihm die seltene Ehrenmitgliedschaft ein. Er war stolz darauf, dass sie ihm durch die liebevolle Mitwirkung des Präsidenten der Gesellschaft erwiesen wurde: Fritz von Stein, der das Amt über 25 Jahre hoch geehrt ausübte.

Goethes einstige Erziehung des kleinen Fritz trug also auch in Schlesien reiche Früchte. Allerdings besaß Goethes Mutter daran einen nicht geringen Anteil. Der 11-12-jährige Fritz schickte der „Rätin“ alle paar Wochen einen detaillierten Bericht über das Leben im Hause Goethes und sie steuerte geschickt, wie der Junge mit Goethe umzugehen hatte, damit aus beiden Söhnen anständige Kerle wurden. Nur, dieses ist Weimar in das Stammbuch zu schreiben: Die Geschichte der Liebe Charlottes zu Goethe und deren Dokumentation, das war keineswegs die einzige kultur- und literaturhistorisch bedeutende Leistung, mit der Fritz von Stein in die Geschichte eingegangen ist. Davon konnten sich die Weimarer Bürger schon 1835 überzeugen, als der Direktor der Breslauer Blinden-Unterrichtsanstalt Johann Georg Knie ihre Stadt besuchte. Obwohl blind, wusste Knie alles über Weimar! Sein Co-Direktor Fritz von Stein hatte ihn bestens auf den Besuch vorbereitet.