27. Jahrgang | Nummer 21 | 7. Oktober 2024

Und jetzt bitte: Action!

von Mathias Iven

Als aufmerksame Leser der WELT am 16. März 2019 die Zeitung aufschlugen, konnten sie im Feuilleton einen Beitrag unter dem Titel „Als David Foster Wallace im Fitnessclub zu Boden ging“ entdecken. Das war der Auftakt zu der bis heute erscheinenden Reihe „Actionszenen der Weltliteratur“. Wobei der Titel bitte nicht falsch verstanden werden darf. Es geht nicht um actionreiche Stellen in irgendwelchen Werken der Weltliteratur, sondern um eigentümliche, kuriose oder auch unerhörte und peinliche Episoden im Leben ihrer Schöpfer. Und so sind es vor allem Biographien, Briefwechsel, Tagebücher und Reisenotizen, die den Stoff für die rund zwei Dutzend Autorinnen und Autoren dieser Artikelserie liefern.

Seither sind fünf Jahre vergangen, Dutzende von Beiträgen wurden veröffentlicht. Mara Delius und Marc Reichwein, beide Mitarbeiter im Feuilleton der WELT, haben das bisher vorliegende Material gesichtet und für einen neuen Band der Anderen Bibliothek exakt 111 „Actionszenen“ ausgewählt. All diese kleinen Geschichten stehen, so die Herausgeber, für „eine ganz andere, konkrete, lebensnahe und noch Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später erlebbare Literaturgeschichte“. Sie zeigen zudem, dass „leibhaftige Personen hinter der Weltliteratur stecken, dass Klassiker zu allen Zeiten Menschen aus Fleisch und Blut waren“. Und schlussendlich wird mit dem Klischee aufgeräumt, dass Schriftsteller nur an ihren heimischen Schreibtischen sitzen und nichts erleben. Greifen wir vier Beispiele aus den letzten 200 Jahren heraus.

Hätte es eine gewisse Sarah Garrs nicht gegeben, wären möglicherweise drei kleine Kinder im Moor von Yorkshire getötet worden. Am 2. September 1824 waren Branwell, Anne und Emily Brontë auf dem Heimweg, als sie von einer Schlammlawine und gewaltigen Wassermassen überrascht wurden. Sarah, die als Hausangestellte bei den Brontës arbeitete, konnte sich mit den Mädchen nach Ponden Hall nahe Stanbury retten. Jahre später werden sich die Schwestern an diese schicksalhafte Nacht erinnern: Emily schreibt darüber in ihrem Jahrhundertbuch „Sturmhöhe“ und Anne verewigt den Ort in ihrem zweiten Roman „Wildfell Hall“.

Ein Wintermorgen im Dezember 1849. Auf dem Paradeplatz der Semjonowski-Garde in Sankt Petersburg ist ein Exekutionskommando angetreten. Auf einem Karren wird eine Gruppe junger Leute herangefahren, unter ihnen Fjodor Dostojewski. Als Mitglied eines sozialistischen Zirkels wurde ihm der Prozess gemacht. Das Urteil lautete: Tod durch Erschießen. Doch kurz bevor die Soldaten die Gewehre anlegen, tritt ein Offizier vor und verliest das Begnadigungsschreiben des Zaren. Zusammen mit 13 weiteren Verurteilten tritt Dostojewski den Weg in die sibirische Verbannung an. In den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus wird er das, was er dort erlebt, der Nachwelt überliefern.

Fünfzig Jahre darauf befindet sich ein gewisser Karl May an Bord des Postdampfers „Preußen“, sein Ziel ist Port Said. In seinen Reiseromanen hatte er die immer zahlreicher werdende Leserschaft seit Jahren zu Schauplätzen in aller Welt geführt, doch er selbst hatte seine sächsische Heimat nie verlassen. Nun steht er mit dem Baedeker in der Hand in Ägypten. Von Abenteuer keine Spur. Er schläft in den teuersten Hotels, hat einen Diener an seiner Seite, und auch sonst lässt er es sich in den nächsten anderthalb Jahren gut gehen. Mehr und mehr holt ihn in diesen Monaten seine Vergangenheit ein. Seine Betrügereien, die Zeit im Gefängnis, der Streit mit seiner Frau – und dann begegnet ihm eines Nachts auch noch Friedrich Schiller …

Das, was sich am 21. April 1914 im Mailänder Teatro Dal Verme abspielt, gilt als Geburtsstunde des Futurismus. Der Dichter Filippo Tommaso Marinetti und einige Mitstreiter malträtieren die Theaterbesucher mit einer Krachorgie. Gedichte, Manifeste und Reden werden verlesen, dazwischen immer wieder ohrenbetäubender Lärm. Das Publikum soll provoziert werden, es soll mitmachen und auf einen neuen „Bewusstseinsgrad“ gebracht werden. Marinetti will mit seiner Performance die Trennung von Kunst und Leben überwinden. An diesem Tag gelingt ihm das nicht. Nach einer Massenschlägerei räumt die Polizei das Theater.

Am Ende ihres Vorwortes schreiben die beiden Herausgeber: „Unser Ideal ist eine seriöse, aber unterhaltsame Literaturgeschichte, deren beste Szenen, einmal gehört oder gelesen, von ganz allein im Gedächtnis und vielleicht auch Herzen haften bleiben.“ Das sollte kein Problem sein.

Fazit: Wer abseits der üblichen Schriftstelleranekdoten in die Literaturgeschichte eintauchen möchte, kommt um dieses Buch nicht herum.

 

111 Actionszenen der Weltliteratur (herausgegeben von Mara Delius und Marc Reichwein). Die Andere Bibliothek Band 477, Berlin 2024, 384 Seiten, 48,00 Euro, respektive ebenda auch als Extradruck, 26,00 Euro.