Wer jemals in der Berlinischen Galerie zugleich fasziniert wie schaudernd vor Anton von Werners Monumentalschinken „Enthüllung des Richard-Wagner-Denkmals im Tiergarten“ von 1908 gestanden hat, weiß, wogegen sich der Berliner „Aufruhr in der Kunst um 1900“ richtet: gegen eine Malerei, die beflissen und fotorealistisch die aristokratischen und großbürgerlichen Eliten des Wilhelminischen Reiches feiert, porträtiert und überhöht.
In der Tat hat Wilhelm II. bei der Eröffnung der Siegesallee (heute ein Spazierweg) im Tiergarten 1901 in seiner sogenannten „Rinnsteinrede“ alle modernen künstlerischen Strömungen, die nicht seinem Geschmack entsprachen, als „in den Rinnstein niedergestiegen verworfen“. Jener Anton von Werner, seit 1875 Direktor der Berliner Kunstakademie, war wichtigster Exponent solchen Kunstverständnisses, das die künstlerische Szene der Hauptstadt über Jahrzehnte prägte und die jährlich stattfindenden Großen Berliner Kunstausstellungen dominierte.
Dagegen formierte sich Widerstand: Im Februar 1892 gründeten elf Künstler – darunter Walter Leistikow und Max Liebermann – die Vereinigung der XI; später rückten Max Klinger, Dora Hitz und Martin Brandenburg nach, Arnold Böcklin wurde Ehrenmitglied. Im November desselben Jahres veranstaltete der eher konservative Verein Berliner Künstler eine Ausstellung von 55 Gemälden Edvard Munchs, die einen Riesenskandal auslöste und schließlich auf Betreiben Anton von Werners abgebaut wurde. Doch nun war die künstlerische Avantgarde auch in Berlin angekommen – bisher war in Deutschland München ihr Zentrum gewesen.
Sechs Jahre später, im Mai 1898, gründete sich schließlich die Berliner Secession, deren Präsident Liebermann wurde. Sie galt bald als besonders fortschrittlich. Erstmalig nahm sie auch Künstlerinnen auf, beschäftigte sich mit dem neuen Medium der Fotografie und überschritt die Grenzen zu anderen Kunstgattungen: „So gab es erstaunlich viele Verbindungen zwischen den Avantgardekünstlern und den naturalistischen Schriftstellern“, darunter Gerhart Hauptmann und Arno Holz. Und die „Secessionsmalerin Sabine Lepsius stellte dem zunächst noch wenig bekannten Dichter Stefan George ihren Salon exklusiv zur Verfügung und inszenierte weihevolle Lesungen, die Georges Ruhm mehrten“. Man traf sich in diversen Ateliers, am Müggelsee, wo der Friedrichshagener Dichterkreis um Wilhelm Bölsche und Bruno Wille zusammenkam, man verkehrte im „Schwarzen Ferkel“ an der Ecke Unter den Linden und Neue Wilhelmstraße, wo eine internationale Bohème um Strindberg, Munch, Richard Dehmel, Peter Hille und den polnischen Schriftsteller Stanislaw Przybyszewski ein- und ausging – und man begegnete sich selbstverständlich auch im „Café des Westens“ am Kurfürstendamm, dem legendären Zentrum des intellektuellen Berlin in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Das neu errichtete Ausstellungsgebäude der Secession in Charlottenburg erwies sich bald als Publikumsmagnet.
Leitgestalt für die Geschichte der Secession ist Max Liebermann, der mit Lovis Corinth und Max Slevogt das Dreigestirn des deutschen Impressionismus bildet. Aber schon 1907 muss Liebermann feststellen, dass die Revolutionäre von gestern die Klassiker von heute sind. Bereits 1902 hatten sechzehn Künstler die Secession verlassen, 1910 kam es erneut zu Austritten vornehmlich expressionistischer Maler, darunter Max Beckmann und Max Pechstein. Sie bildeten im April desselben Jahres die Neue Secession, deren erste Ausstellung sie unter dem Titel „Zurückgewiesene der Secession Berlin 1910“ bereits im Mai eröffnen konnten.
Innerhalb der alten Secession gärte es weiter: Im Frühjahr 1910 wurde Emil Noldes Bild „Pfingsten“ von der Jury der Secession zurückgewiesen. Daraufhin veröffentlichte Nolde in der Zeitschrift Kunst und Künstler einen Protestbrief, in dem er nicht nur die Secession als „schwerfälligen, reaktionären Verein“ bezeichnete, sondern auch Liebermann persönlich aufs Übelste diffamierte. Prompt wurde Nolde, der sich bereits vorher der Neuen Secession angeschlossen hatte, aus der alten ausgeschlossen. Liebermann legte gemeinsam mit anderen Vorstandsmitgliedern 1911 den Vorsitz nieder, Corinth wurde sein Nachfolger, konnte aber ab Dezember wegen eines Schlaganfalls sein Amt nicht ausüben. Nach seinem Tode 1925 wurde das Präsidentenamt abgeschafft.
Max Liebermann musste wie alle jüdischen Künstler 1933 die Sezession verlassen, viele Bilder von Mitgliedern der Gemeinschaft fanden sich 1937 in der großen Schau „Entartete Kunst“ in München wieder. Das frühere Secessionsmitglied Paul Schultze-Naumburg allerdings schlug einen anderen Weg ein: Ab Mitte der 1920er Jahre hatte er Hitler, Goebbels und Himmler bei sich zu Gast, von 1932 bis Kriegsende war er Reichstagsabgeordneter der NSDAP und schließlich wurde er von Hitler in seine „Gottbegnadeten-Liste“ aufgenommen.
Zu den interessantesten Abschnitten des Buches, das die Berliner Kulturwissenschaftlerin Roswitha Schieb zur Geschichte der Secession geschrieben hart, gehören die über den Umgang Liebermanns mit seinem Judentum. Konfrontiert mit dem latenten Antisemitismus der Kaiserzeit blieb ihm nur der Weg nach vorn. So schreibt er seinem mit dessem Judentum hadernden Neffen Walter Rathenau: „Ich betrachte die Juden liebevoll oder bemühe mich wenigstens, es zu thun: die Ärmsten – denn die Reichen lassen sich taufen – sind, wenn sie fehlerhaft, zu ihren Fehlern gezwungen worden. Auch könnte man die Fehler, die Du ihnen vorwirfst, den meisten Christen vorwerfen. Au fond sind’s alles Menschen, die sich gar nicht so sehr voneinander unterscheiden“.
Liebermann war stolz auf sein Judentum und sah die „jüdische Rasse“ als höherwertig an. In einem Gespräch mit Richard Dehmel im Jahr 1909 ist es Liebermann, der auf dem Rassebegriff insistiert: Er nämlich sei als Jude noch „Vollblut“, „die anderen sind schon meistenteils alle so ins allgemein Menschliche vermanscht“. Und: „Dumm muß der Künstler sein, dumm und geil! Und das kann blos (sic!, H.-P. E.) ein Rassekerl!“ Das Rassethema konnte eben 1909 noch „als ironisch-spielerischer Konversationsstoff herhalten“, vom jüdischen Künstler gebraucht, um „seine Verletzungen durch antisemitische Vorwürfe zu verdecken“.
Ein besonderes Kapitel widmet Schieb den Frauen in der Sezession: Sabine Lepsius, deren Bild ihrer Tochter Monica bei der Sezessionsausstellung 1900 ein großer Erfolg war, Julie Wolfthorn, Maria Slavona aus Paris (das einzige korrespondierende Mitglied), Clara Sievert, Ernestine Schultze-Naumburg, Lovis Corinths Schülerin und spätere Frau Charlotte Berend (die einzige Frau in der Jury der Sezession), die bereits genannte Dora Hitz und natürlich Käthe Kollwitz, deren Radierungen wie „Vergewaltigt“ aus dem Jahre 1907 auch die Konventionen der Sezession sprengten. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Paris hatten Malerinnen es in Deutschland schwer: Es mangelte an Ausbildungsmöglichkeiten, Berufstätigkeit von Frauen galt als anrüchig und nicht zuletzt schürte die männlich dominierte Kunstwelt durchaus Vorurteile gegenüber den künstlerischen Fähigkeiten von Frauen.
„In der Berliner Secession begegnete Deutschland zum ersten Mal der Moderne“, schreibt Schieb. Das scheint mir dann doch erheblich zu hoch gegriffen zu sein, denkt man an die Umbrüche in Technik und Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, die das ganze 19. Jahrhundert durchziehen und geprägt haben. Aber ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte im Spiegel der Kunst und einer Künstlergemeinschaft zu präsentieren: in einem schönen, nicht zu voluminösen, hervorragend ausgestatteten und bebilderten, zugleich wissenschaftlich fundierten wie unterhaltsam zu lesenden Buch – das gelingt selten. Die Autorin hat es geschafft und der Rezensent hat es genossen.
Roswitha Schieb: Die Berliner Secession. Aufruhr in der Kunst um 1900. Elsengold Verlag, Berlin 2022, 256 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Anton von Werner, Berliner Secession, Hermann-Peter Eberlein, Max Liebermann, Roswitha Schieb