27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Wanderlieder

von Gerhard Müller

Wilhelm Müller – er lebte von 1794 bis 1827 – war einer, der auszog, das Vaterland zu befreien, unterwegs kommt es ihm abhanden. Nach Hause kehrt er zurück wie ins Exil.

Leicht stimmt sich heute das Lied vom Wandern an, das des Müllers Lust sei, und dass wir es vom Wasser gelernt hätten. Es könnte andere Lehrmeister gegeben haben. Wilhelm Müller war nicht der erste deutsche Dichter, der das Motiv des Wanderers aufgriff, aber kein anderer hat es so originell behandelt. Durch ihn ist der Wanderer zur Epochen-Metapher geworden.

In Wilhelm Müllers Biografie ist das Jahr 1814 ein dunkler Fleck. Er hatte sich am 16. Februar 1813 als Freiwilliger zur preußischen Armee gemeldet, war gegen Napoleon zu Feld gezogen und hatte sich in mehreren Gefechten geschlagen. Er dichtete patriotisch:

 

Aus Franzosenschädeln trinken wir

Dort unsern deutschen Trank

Und feiern Wilhelms Siegeszier

Mit altem Bardensang.

 

Die folgenden Gedichte allerdings sind durchwittert von Zweifeln, Skrupeln, tragischen Verwicklungen. Nicht als Sieger kehrte er heim, sondern als „Stadtsoldat“ landete er in Prag und Brüssel. So hatte er sich die Befreiung nicht vorgestellt. Bei flandrischem Wein gedachte der inzwischen zum Leutnant avancierte Dichter wehmütig des zerflossenen Barbarossa-Traums vom demokratischen Volkskaiser, der natürlich kein französischer Diktator sein sollte.

Und Müller verliebte sich – denn er war noch jung – in die bildschöne, schwarzlockige Tochter eines jüdischen Brüsseler Kaufmanns. Das ging gegen die preußische Standesehre und wurde zur Tragödie, denn ein preußischer Leutnant hatte nicht mit feindlichen Ausländern zu fraternisieren. Irgendwelche militärischen Akten oder Schriftstücke über diesen militärischen Faux pas sind uns nicht überliefert, aber wahrscheinlich wurde Müller aus der Armee ausgestoßen und begab sich am 18. November 1814 auf den unfreiwilligen winterlichen Rückweg in das heimatliche Dessau. Drei Wochen war er unterwegs, ausgemustert, mittellos, ohne Sold.

Zu Hause kam er wieder in bürgerliche Bahnen, Der anhaltinische Herzog machte ihn zu seinem Bibliothekar, und Müller verkehrte bald in dem prominenten Berliner Dichterkreis um Clemens Brentano, Achim von Arnim, Ludwig Tieck, die Brüder Schlegel und Friedrich de la Motte Fouqué. Doch er war ein Gezeichneter. Sein Lebensthema blieb die Kriegsfahrt nach Brüssel. Sie hat er beschrieben in den Verserzählungen der „Schönen Müllerin“ und der „Winterreise“. Durch Franz Schubert wurden sie weltbekannt.

Fast zur gleichen Zeit schrieb Georg Büchner seinen „Woyzeck“, eine Wanderer-Geschichte anderer Art. In dieser Dichtung tritt die Rohheit des Zeitalters unvergleichlich brutaler hervor. Wo Müllers Wanderer im Nebel einer sentimentalen Reise entschwindet, endet Woyzeck unter dem Fallbeil des Leipziger Scharfrichters.

Brüssel war das Damaskus Wilhelm Müllers – die Ankunft im Reiche Metternichs. Viele seiner Gedichte reden von dieser Stadt, die er nie beim Namen nennt. Seine Verse sind keine Chronik. Müller ist anders als Stendhal kein Romancier. Er ist ein Lyriker, der kein Schlachtfeld braucht. Eine Straße im Mondschein genügt ihm als Bühne seiner „Weltgeschichte des Herzens“. Auf den Tag genau ein Jahr nach der Abreise aus Brüssel, die man wohl besser eine Flucht nennen sollte, am 18. November 1815, schrieb er ein Gedicht an den „blauen Mond“:

 

Ach Mutter, liebe Mutter,

Ihr müßt geblendet sein,

Die Augen, die blauen, stehen

Ja mitten im Monde drein.

 

Sie schauen so sehnlich hernieder,

Sie blinken und winken mir zu.

Ach Mutter, könnt ich doch fliegen!

Hier hab ich keine Ruh.

 

Müllers Lebens-Wanderung endet nach mancher Unbill nicht in einer warmen Stube, der Wanderer trifft keine mitfühlende Seele, keinen Gefährten oder Freund. Nur die Krähen und die kläffenden Hunde des Metternichschen Polizeitstaats, der seinerzeit bis Brüssel reichte, umkreisen ihn. Die Bäume sind entlaubt, die Bäche vereist, das Wirtshaus ein Totenacker, der Lindenbaum ein Todessymbol:

 

Komm her zu mir, Geselle,
hier find’st du deine Ruh’!

 

Heinrich Heine hat den trefflichsten Kommentar dazu geliefert, indem er die romantischen Lokalitäten in die Realität übertrug und beim Namen nannte – Frankfurt, Köln, Hamm, Celle, Berlin, Hamburg – die Orte seines Poems „Deutschland, ein Wintermärchen“.

Die geheimnisvollste Frauengestalt Wilhelm Müllers ist eine Jüdin. Sie erscheint in der „Winterreise“ als reiche Bürgerstochter, als biblische Esther in seinem Gedichtzyklus „Johannes und Esther“ und als tragische Heldin in der Novelle „Deborah“. Müllers Wanderer gleichen dem Ahasver aus dem heute vergessenen Drama von Karl Friedrich August Klingemann – ein Verstoßener, der nirgends eine Heimat findet: „Fremd bin ich eingezogen“, so beginnt die „Winterreise“.

Die beliebtesten deutschen Wanderlieder entstanden im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Ihr fröhlicher Klang begleitet uns (wenn auch leider immer seltener) bis heute. Aber sind es nicht auch Kriegslieder? Krieg war und ist bis heute eine verbreitete Form kollektiver Wanderschaft – Aufbruch mit Trommelwirbel und Trompetengeschmetter sowie Flucht und Vertreibung am Ende. Was sich damals ereignete, wird uns auch heute jeden Abend vorgeführt, vorläufig erst noch im Fernsehen – Charkow, Kiew, Gaza, Bachmut. Bachmut? Da ist Sergej Prokofjew geboren, dessen Musik dort heute verboten ist.

„Eine Kugel kam geflogen“, dichtete Ludwig Uhland. Sein Lied vom guten Kameraden entstand 1809 und handelt vor dem Hintergrund der Niederschlagung eines Tiroler Bauernaufstandes durch die französische Besatzung. Das weiß heute niemand mehr. Das deutsche Militär hat sich das Lied jedoch längst als sentimentales Patriotikum einverleibt und damit Uhlands Intention eines Anti-Kriegsliedes, das nicht die Schlachten rühmt, sondern ein Requiem auf die Erschlagenen und Erschossenen ist, ins Gegenteil verkehrt.

Die Linde am Brunnen vor dem Tore wurde das bekannteste Symbol der deutschen Wanderschaften. Wir denken sie uns üppig belaubt; darunter fröhliche Gesellen. Doch im Gedicht steht es anders. Hexenhaft erscheint sie im Novemberwind und winkt mit einen kahlen Ast: „Du fändest Ruhe dort“. Schuberts Vertonung widersetzt sich dieser Deutung nicht. Sie ist tragische Ironie, Melancholie des Erinnerns. Denn es waren ja nicht die deutschen Linden, die im Liede rauschten, es waren die Linden von Waterloo am Tage nach der Schlacht.

Wir hören allerdings nur noch die Elegie, nicht mehr die Parodie. Denn ursprünglich war Müllers Poem von der Winterreise eine Parodie auf die damals beliebte Oper „La Molinara“ von Giovanni Paisiello. Das können wir nicht hören, weil Schubert es nicht komponiert hat. Die ironischen Gedichte hat er ausgelassen, das vom „Schwarzen Blümlein Vergiß mein“ aus dem Satansgarten oder das vom Steg über den Bach, der zusammenkracht und den Jäger in denselben stürzt.

Das der „Winterreise“ folgende Poem „Johannes und Esther“ hingegen ist eine ungleich ernstere Liebesdichtung, ein intimes Zwiegespräch zwischen einem Christen und einer Jüdin über den christlichen und den jüdischen Glauben. Mit dem Namen Esther beschwor Müller die hebräische Freiheitsgöttin der Bibel, die die Juden vom persischen Joch erlöste. Sie erscheint bei Müller im strengen Aschenkleide, während auf den christlich-deutschen Gassen die Narrenzüge tollen. Die Esther des Gedichts bleibt Jüdin und lässt sich trotz der frommen Eloquenz des Johannes nicht bekehren. Die konventionelle Christenheit wird verworfen als eine nur formelle Existenzform des Glaubens. Im Bild des Leiermanns kulminiert die Stimmung der absoluten Menschen- und Gottverlassenheit. Dieses Sujet hat Wilhelm Müller später noch einmal aufgenommen in dem Gedicht „Der ewige Jude“:

 

Ich wandre sonder Rast und Ruh,

Mein Weg führt keinem Ziele zu.

Fremd bin ich in jedwedem Land,

Und doch jedem wohlbekannt.

 

Das unstete Bild Ahasvers, des ewigen Juden, ist Müllers letzte Inkarnation des Wanderers. Mit Richard Wagner betritt der als fliegender Holländer, Tannhäuser oder Tristan die Opernbühne, mit Büchners „Woyzeck“ das Schauspielhaus, mit Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“ das Gefilde des Romans … Die romantischen Dichter durchstreifen kein Schlechtwettergebiet, sie finden auf der Suche nach der Heimat eine reformierte-Hölle.