27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Weltpolitische Sichten

von Erhard Crome

Nachdem Fernand Braudel, Immanuel Wallerstein und André Gunder Frank den Blick auf die Weltgeschichte als eines ökonomisch grundierten Weltsystems geöffnet hatten, erschienen Arbeiten von Historikern zur „Unterwerfung der Welt“ durch die europäische Expansion, zur „Geburt der modernen Welt“ und zur „Verwandlung der Welt“ im 19. Jahrhundert.

Dazu gehört auch das Buch „Empires“ von Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard. Es ist vor allem wegen der klar akzentuierten methodischen Fragestellungen interessant. So betonen die Autoren, angesichts des russischen Ukraine-Krieges und der chinesischen Politik gegenüber Taiwan werde wieder über Imperialismus und Empire geredet, wodurch auch das „Imperium Americanum“ der USA sowie Europa erneut in den Blick gerieten. Allerdings handele es sich um eine „inflationäre Verwendung dieser Begriffe, deren Erklärungskraft eher behauptet als analytisch erwiesen wird“.

Die Autoren wollen den Imperiums-Ansatz neu fruchtbar machen. Dabei soll es um „die Logik der Empires, ihre Imperialität“ gehen. Nun sollen jedoch„die Perspektive der Untertanen, Kolonisierten und Beherrschten im Zentrum“ stehen. Zunächst wird festgestellt, dass der europäische Nationalstaat im 19. Jahrhundert „eine eher späte und zunächst vereinzelte Erscheinung“ gewesen sei, die jedoch „immer wieder auf imperiale Vergangenheiten zurückgriff“. Das habe für die Zeit vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ende der Nachkriegsperiode nach dem Ersten Weltkrieg gegolten.

In jener Zeit „dominierten keineswegs die in Europa etablierten Nationalstaaten, sondern spannungsreiche Übergänge zwischen Empires und Nationalstaaten, welche die Unterschiede zwischen beiden Formen von Staatlichkeit zunehmend verwischten. In praktisch allen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts entwickelten sich imperiale Agenden und koloniale Expansionsphantasien, zumal in den zwischen 1859 und 1871 neu gegründeten Nationalstaaten Italien und Deutschland. Viele Zeitgenossen glaubten, dass nur ‚imperialisierende Nationalstaaten‘ im internationalen Konkurrenzkampf überleben konnten. Umgekehrt verstärkte sich in ‚nationalisierenden Empires‘ die Orientierung an der Nation als vermeintlichem Integrationskern, sei es im Pangermanismus der Habsburgermonarchie, im Panslawismus des Zarenreiches oder dem Panturkismus des Osmanischen Reichs.“ Der „imperialisierende Nationalstaat“ entspringt allerdings – wie von Seiten des Rezensenten einzuwenden ist – einer eher westeuropäischen Perspektive, für die etwa Belgien steht. Beim Kampf um den Nationalstaat im Osten, so der Bulgaren, Serben, Albaner, Polen und Finnen,  ist es  nicht um Kolonien in fernen Ländern gegangen, sondern um das Territorium, auf dem die betroffenen Völkerschaften schon immer gelebt hatten oder das ihnen entrissen wurde , als sie von anderen Mächten unterworfen wurden.

Problematisch ist  die Titelwahl. Der Terminus „Imperium“ sei universalgeschichtlich aufgeladen und im 19. Jahrhundert „zunehmend politisch eingefärbt oder sogar zum Kampfbegriff“geworden. Deshalb hätten sich die Autoren für „Empire“ entschieden. Das sei eine „idealtypische Definition“, für die fünf Kriterien gelten würden: erstens eine besondere räumliche Ausdehnung; zweitens „eine ausgeprägte ethnische Vielfalt“ sowie „eine große Zahl heterogener Territorien mit unterschiedlichem politischem und rechtlichem Status“; drittens weiche Grenzen und fluktuierende Grenzräume; viertens „supranationale Herrschaftsformen und spezifische Machthierarchien innerhalb ihres Herrschaftsraums“ und schließlich fünftens die Vorstellung von langer Dauer dieser Herrschaft.

Diese Kriterien galten jedoch bereits für das Römische und Byzantinische Reich. In Herfried Münklers Buch „Imperien“ aus dem Jahre 2005 wurden entsprechende Kriterien für das „Imperium“ bestimmt. So erscheint die Titelwahl gekünstelt, zumal historisch nur das britische Weltreich „Empire“ war. Dessen ungeachtet folgt diese Besprechung der Wortwahl der Autoren.

Der Band ist in fünf empirische Kapitel eingeteilt. Im Teil „Erobern und erschließen“ wird darauf verwiesen, dass um 1800 ein Drittel der Weltoberfläche unter europäischer Herrschaft stand, 1914 waren es bereits mehr als drei Viertel. (Methodisch wird auch das Osmanische Reich als eines der Empires behandelt.) Große Teile Asiens, Afrikas und Australiens waren von den europäischen Mächten erobert worden, die Kolonialkriege führten, Steuern von den lokalen Gemeinschaften erzwangen, Eisenbahnen bauten und Kanäle anlegten. Dazu wurden alle neuen Technologien genutzt, die das 19. Jahrhundert hervorbrachte. Eine der folgenreichsten Strategien bestand darin, Siedlern freie Hand zu geben. „Die neuen Verkehrswege sollten dazu beitragen, Grenzen militärisch zu sichern, weit entfernte Gesellschaften besser zu kontrollieren, den Handel zu globalisieren oder auch Pilgern die Reise zu erleichtern.“ Vielfach jedoch führten die neuen Infrastrukturen zu einer Dynamik , die auch die Kolonisierten und Untertanen für eigene Zwecke zu nutzen verstanden. Insofern brachten die neuen Möglichkeiten der Empires, Räume zu erobern, auch die Grenzen imperialer Macht hervor.

Auf Krieg und Eroberung musste, wie das betreffende Kapitel überschrieben ist, „Herrschen und verhandeln“ folgen, wenn die imperiale Macht ortsansässig werden sollte. Widerstände unterdrückter, lokaler Gruppen konnten nicht mehr vor allem gewaltsam gehandelt werden, sondern die Vertreter der Empires, die vor Ort nur über begrenzte Machtressourcen verfügten, waren auf Kooperationen verwiesen. Dabei spielten örtliche Kräfte, oft aus den überkommenen Oberschichten, eine wichtige Rolle, vor allem bei Steuereintreibung und Verwaltung. In den Vordergrund rückte das Recht, das einerseits Herrschaftsinstrument, andererseits Kolonisierten und Untertanen Handlungsinstrument war. Mit der Modernisierung auch in den Kolonialgesellschaften rückten Sprache, Bildung und Schule in den Vordergrund. So wie sie in Europa im 19. Jahrhundert wesentliche Faktoren der Nationsbildung waren, hatten sie hier die Nationalisierung einzelner Gruppen zur Folge, was wiederum die Krisenanfälligkeit der Empires erhöhte. Das Selbstbild der britischen „Pax Britannica“ ist das einer Friedensepoche zwischen Wiener Kongress, 1815, und Erstem Weltkrieg, 1914. Blickt man jedoch nicht von London auf die Kolonialgesellschaften, sondern von Afrika, Asien, der Karibik oder dem Südpazifik aus, „von Irland ganz zu schweigen“, so führte Großbritannien praktisch in jedem Jahr des langen 19. Jahrhunderts in irgendeinem Teil seines Empire einen „small war“.

Die Existenz der Empires hing auch daran, dass Menschen an sie glaubten, die Vertreter der Macht, wie die Herrschaftsunterworfenen. Das wird in dem Kapitel „Glauben und repräsentieren“ behandelt. Die Versuche, die überkommenen Monarchien zu nutzen, so in Großbritannien, Österreich-Ungarn und Russland, erfüllten den ihnen zugedachten Zweck vielfach nicht, auch die Politisierung von Religion misslang. Das Volumen des Welthandels erhöhte sich zwischen 1800 und 1913 um das Fünfundzwanzigfache. Für die Entwicklung des Kapitalismus wurden die imperiale Herrschaft und die Ausbeutung der Kolonien immer wichtiger. Die fortschreitende ökonomische Dynamik hatte die Integration von immer mehr Wirtschaftsräumen in globale ökonomische Zusammenhänge zur Folge. Das ist Gegenstand des Kapitels „Prosperieren und profitieren“.

Der Abschnitt „Kämpfen und verteidigen“ beginnt mit Verweis auf Halford Mackinder und die Geburt der Geopolitik. Um 1900 „erschien die Welt vielen Beobachtern immer mehr als Raum rivalisierender Territorialstaaten“. Das schien jedoch nicht nur so, das war so. Die koloniale Aufteilung der Welt kam zum Ende, die „weißen Flecken“ auf der Weltkarte verschwanden, wie die Autoren feststellen. So rückte die Fähigkeit zur Kriegsführung ins Zentrum, die Empires sollten „den Herausforderungen zugespitzter Rivalität gewachsen“ sein. Die Kolonialreiche wurden zu riesigen Rekrutierungsräumen für den Ersten Weltkrieg. Doch die Rechte der Rekrutierten verbesserten sich durch den Kriegsdienst nicht. So führte der Weltkrieg zu einer Krise der imperialen Legitimität.

Das Fazit der Autoren passt zur derzeitigen Staatspolitik. Die westeuropäischen Gesellschaften und die der USA würden Debatten um die Aufarbeitung der eigenen imperialen Geschichte führen und die Restitution geraubter Güter praktizieren, während China und die Türkei an „eine imperiale Vergangenheit“ anzuknüpfen versuchten und im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine das Empire zurückzukehren scheine …

 

Ulrike von Hirschhausen / Jörn Leonhard: Empires. Eine globale Geschichte 1780-1920. Verlag C.H. Beck, München 2023, 

736 Seiten, 49,00 Euro.