27. Jahrgang | Nummer 12 | 3. Juni 2024

Film ab

von Clemens Fischer

Das ist wieder einer von diesen leisen, berührenden Filmen, wie sie seit Jahrzehnten immer noch vor allem in Frankreich gedreht werden. „Das übergeordnete Thema der liebenswerten Provinzkomödie […] ist das Sterben der ländlichen Lebenswelt“, vermerkte Filmkritikerin Walli Müller auf NDR. Das ist durchaus treffend formuliert. Doch so schwer auch das Thema und so aller mitschwingenden Melancholie zum Trotz savoir la vivre die Inszenierung … Die Übertragung des Originaltitels „Les Petites Victoires“ („Die kleinen Siege“) ins Deutsche – „Es sind die kleinen Dinge“ – lässt dies schon erahnen.

Man mag eine Zwergschule in einem der führenden Industriestaaten der Welt zu Recht für einen überholten Anachronismus halten. Sie befindet sich in einem abgelegenen bretonischen Dorf mit lediglich noch 400 Seelen (ohne Arzt, ohne Bäcker, ohne Lebensmitteladen, ohne Bar, ohne Friseur, ohne – alles), in der Kinder unterschiedlichen Unterstufenalters von einer einzigen Lehrerin in einer einzigen Klasse unterrichtet werden. Doch sind die Dinge des Lebens selten so unterkomplex, wie uns die Adepten des Fortschritts gern weismachen möchten.

Auch wenn die Dorfgemeinde in ihrem kollektiven, an den Kampf ihrer weit ruhmreicheren gallischen Schwester gegen die Römer erinnernden Bemühen, dem Fortschritt ein Schnippchen zu schlagen, letztlich scheitert – zum Besten der Zwergschulschüler, so ehrlich ist der Film –, ist es ein cineastisches Vergnügen, diesen Bretonen bei ihrem Leben über die Schulter zu schauen.

„Es sind die kleinen Dinge“, Regie und Drehbuch (Mit-Autorin): Mélanie Auffret; derzeit in den Kinos.

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Wer seit Ingmar Bergmans hoher Kinozeit in den 1970er und 1980er Jahren vergeblich auf solch düstere, völlig hoffnungslose Dramen darüber, was Menschen sich durch Eiseskälte in ihren wechselseitigen emotionalen Beziehungen in Gestalt von Ehen, Familien und vergleichbaren Anordnungen an Verletzungen, ja lebenslang nicht heilbaren Verstümmelungen beizubringen vermögen, gewartet hat, dem beschert „Sterben“, Matthias Glasners „persönlichster Film“ (NDR), nun leider auch nicht das Ende dieser überlangen Durststrecke. Denn gezeigt wird zwar eine emotional irreparabel zerfallene Familie, doch bis zur meisterlichen Subtilität Bergmans reicht es denn doch nicht.

Natürlich kann man darüber streiten, wie Bergman das Problem einer Frau in Szene gesetzt hätte, die ihre Ausscheidungen nicht mehr unter Kontrolle bringt. Dass er sie allerdings auf großer Leinwand in denselben sitzend vorgeführt hätte, darf vielleicht bezweifelt werden. Da die Szene andererseits keinen erkennbaren dramaturgischen Bezug zum Rest des Filmes hat und das Problem als solches auch nicht noch einmal auftaucht, hätte Bergman auf eine solche Passage womöglich ganz verzichtet. Gottseidank, so Corinna Harfouch in einem Interview, sei der Ekel in der Szene nur zu spielen gewesen; am Set eingesetzt worden sei – Schokolade.

„Sterben“ ist großenteils ein Kammerspiel über „furchtbare Menschen“, so Sohn Tom (Lars Eidinger) über seine Mutter (Harfouch) und sich – Menschen, wie man sie sich im wirklichen Lebens möglichst gar nicht und im Kino allenfalls dann zumuten sollte, wenn sie von so exzellenten Mimen wie den genannten verkörpert werden. Harfouch wurde dafür mit dem diesjährigen Deutschen Filmpreis für die beste weibliche Hauptrolle geehrt. Gleiches und ebenso völlig zu Recht widerfuhr auch ihrem Film-Gatten (Hans-Uwe Bauer), der sein von ihm nicht mehr beherrschbares Alltagsleben im Spätstadium einer Demenz als geradezu forensisches Lehrstück auf die Leinwand bringt. Höchst bedauerlich, dass Lilith Stangenberg als Toms Schwester Ellen beim Deutschen Filmpreis leer ausging. Denn die eigentliche Entdeckung in diesem Streifen ist ihre Darstellung einer menschlichen Wüstenei, deren Alkoholkrankheit die eigene Misere ebenso immer wieder wenigstens zeitweise erträglich macht, wie sie jegliche Rückkehr in andere Formen von Leben als Vegetieren in Resten von bürgerlicher Fassade verwehrt. Harfouchs Sohn Robert Gwisdeck als am Leben scheiternder depressiver Komponist Bernard – Tom über ihn: „Nicht jeder Mensch ist fähig, Glück zu empfinden.“ – vervollständigt das exquisite Ensemble.

Kritiker anderer Blätter meinten unter anderem: „Grenzen sprengende[…] Tragikomödie“ (taz); ein „Film über die Intensität des Lebens angesichts der Unverschämtheit des Todes“ (der Freitag); ein „Kinodrama, das an Direktheit kaum zu schlagen ist“ (RedaktionsNetzwerk Deutschland); „teils hart an der Grenze zur Plattitüde vorbeischrammende Dialoge“ (FAZ); der Film profitiere vom „zeitweiligen Spannungsfall ins Schmierentheaterhafte“ (Süddeutsche Zeitung).

Was bliebe sonst noch zu vermerken?

Berlinale 2024: Silberner Bär für das beste Drehbuch; Deutscher Filmpreis 2024: Goldene Lola als bester Film.

„Sterben“, Drehbuch und Regie: Matthias Glasner; derzeit in den Kinos.

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In Italien hatten Frauen 1946 erstmals das volle Wahlrecht. Bei den für den 2. und 3. Juni angesetzten Parlamentswahlen konnte, wer es am ersten Tag nicht schaffte, am nächsten („Morgen ist auch noch ein Tag“) an die Urne treten. 13 der 25 Millionen Wähler waren weiblich; deren Wahlbeteiligung lag bei 89 Prozent.

Mit dieser Mitteilung vor dem üblichen Abspann entlässt Paola Cortellesi die Zuschauer aus ihrem fulminantem Regiedebüt, einem in Schwarz-Weiß gedrehten Film über eine Familie am unteren Ende der italienischen Gesellschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor allem aber über vom Manne ausgeübte häusliche Unterdrückung und physische Gewalt sowie über die während zig-Generationen antrainierte widerstandslose Unterwürfigkeit der Frau. Dem Vater des prügelnden Machos, den trauernde Mitmänner nach seinem Ableben zum Heiligen erheben werden, tut die Schwiegertochter durchaus leid. Daher rät er: „Du darfst sie nicht immer schlagen. Am Ende gewöhnt sie sich daran! Eine anständige Tracht Prügel, das versteht sie.“ So habe er es mit der Mama, seiner Frau, gehalten. Und: „Hast du uns jemals streiten sehen?“

Im bürgerlichen Milieu war man seinerzeit bereits einen Schritt weiter: Da wurde der Gattin, die zu einem Streit zwischen Vater und Sohn etwas zu bemerken wagte, vom Manne keine tätliche Ohrfeige mehr verabreicht, sondern nur noch eine verbale: „Unser Gespräch geht dich nichts an. Halt‘ den Mund!“

Der Urnengang 1946 wird zum ersten Aufbegehren der geprügelten Frau.

Ob sie damit ihr Schicksal gewendet hat? Das erscheint höchst fraglich.

Zwar endet der Film an dieser Stelle mit verhaltenem Optimismus. In Italien allerdings regierte von 1946 bis Anfang der 1990er Jahre die erzkonservative katholische und eng mit dem Vatikan und Medienberichten zufolge auch mit dem organisierten Verbrechen verbandelte Partei Democrazia Cristiana, die in jenen Jahrzehnten die meisten Regierungschefs stellte, welche für die Reformen zur Familien- und Arbeitssituation von Frauen keine Priorität hatten.

Der Film war in Italien ein Blockbuster, der amerikanische Produktionen wie Oppenheimer und selbst Barbie an den Kinokassen schlug.

„Morgen ist auch noch ein Tag“, Regie, Drehbuch (Mit-Autorin), Hauptrolle: Paola Cortellesi; derzeit in den Kinos.