In der bildenden Kunst sind die Versuchungen des heiligen Antonius, dem der Teufel verführerische Trugbilder vorspiegelt und dessen Dämonen ihn peinigen, durch den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald und das Lissaboner Triptychon von Hieronymus Bosch aus dem beginnenden 16. Jahrhundert berühmt geworden. Max Ernst und Salvador Dali haben sich dann auch in unseren Zeiten diesem Motiv gewidmet. Ihnen gesellt sich Clemens Gröszer mit seinem Triptychon „Versuchung“ (Arbeitszustand 2014) hinzu. Dieses wandfüllende Werk, das er nicht mehr vollenden konnte, ist natürlich der magische Anziehungspunkt in der Ausstellung des 2014 verstorbenen Malers und Bildhauers, die jetzt in der Galerie Brusberg in Berlin-Charlottenburg zu sehen ist.
Hier macht Gröszer surreale, traumartige Bildwelten sichtbar, die auf Grund einer virtuosen, altmeisterlich wirkenden Technik Plausibilität gewinnen. Eine wechselhafte wie beunruhigende Welt der Sinnestäuschungen, Illusionen und nackter Wahrheit, der Fabelwesen, Ungeheuer, Dämonen, Engel, Huren und Heiligen hat der Künstler, sich selbst in einer bewegten gesellschaftlichen Umbruchszeit befindend, geschaffen. Mit Verfremdungen der Dingwelt, Höllenfahrten, Hexentreiben und Satanskult, hedonistischen Gegenparadiesen und Verkehrten Welten kennt sich Gröszer bestens aus. Lustvoll oszillieren seine grotesk-realistische Bildwelten zwischen Sinn und Sinnlichkeit, Humor und Schrecken, Hohngelächter und Höllenangst, Verwirrung und Irritation. Er säkularisiert und aktualisiert das überlieferte christliche Rahmenthema. Eine apokalyptische, in bösen grellen Farben gemalte Harlekinade mit teuflischen Engeln, falschen Propheten , fanatisierten Spießern, Erotomanen und grotesken Wesen. Totentanzartige Figuren mit Masken und Larven. Von Otto Dix bis zur Kunst des 16. Jahrhunderts, zu Hans Baldung Grien und Matthias Grünewald, zur Kunst des italienischen Manierismus kann man zurückblicken.
Aber das ist das eigentliche Thema, das auch andere Maler wie Harald Metzkes oder Volker Stelzmann aufgegriffen haben: Der Mensch in der Versuchung, zwischen Skylla und Charybdis, also in einem Dilemma, aus dem er nicht ohne Schaden herauskommen kann. Wird er dennoch seinen eigenen Weg finden und gehen?
Gröszer, dieser Künstler mit der überbordenden Phantasie, will nicht Moralist mit erhobenem Zeigefinger sein, er ist auch als Neo-Verist bezeichnet worden. Aber erweist er sich nicht am ehesten doch als Moralsatiriker? Die Zwei-, ja Vieldeutigkeit ist seine Malstrategie. Er zeigt das Walten des Bösen in der Natur und im Menschen, als Maler schlüpft er gleichsam in die Rolle des Teufels oder besser des Narren, der ganz im Sinne der Narrenliteratur des 16. Jahrhunderts Wahrheiten verkündet, die sonst nicht ausgesprochen werden können. Er bleibt aufmerksamer Beobachter, ist manchmal auch Mit-Akteur, mal mit einem ironischen Augenzwinkern, dann wieder mit lasziver Sinnlichkeit und brutaler Deutlichkeit.
Seine Figuren und Gegenstände sind in ein hartes, ja grelles Licht gesetzt, der Raum ist übernah an den Betrachter herangerückt, mitunter scheint er dann auch wieder in theaterhafter Perspektive vor dem Betrachter zurückzuweichen. Mal haben wir es mit einer kubistischen Flächigkeit und Komprimierung zu tun, dann wieder mit einem Verlängern, das die fernen Dinge noch entfernter erscheinen lässt. Eine Bühne, auf der unvereinbare Dinge zusammenkommen. Eine Mischung aus Erotik, zynischem Humor, grotesker Absurdität.
Die bedrängende Fülle im Figurativen also – die Flächen sind mit einer bis zum Bersten miteinander verknäulten Personage gefüllt – scheint seine betont vorgetragene Bildthematik auszumachen. Assoziative Operationen, ikonische Zeichen sind auch seinen allegorischen Einzelfiguren eigen (von „Dance macrabre“, 1989/90, bis zu den „Marin à cholie“- Bildern der 1980er/90er Jahre). Die Marionette, die Maske als Zeichen von Fremdbestimmung und Entpersönlichung des Menschen.
Bewegende Bilder dieses Phantasten der Rebellion gelten dem Versuch, die Kluft zwischen dem Ich und den Anderen zu schließen. Und das gelingt ihm überzeugend im Porträt. Keine andere Wahl bleibt ihm, als sich auf sich selbst zurückzuziehen und sein Ich als den einzigen sicheren Hort in einer sonst ihn bedrängenden Welt zu sehen. Wie aber soll man eine im höchsten Maße gesteigerte Bildsprache sowohl für menschliche Selbstbehauptung als auch Verlassenheit und Angst suchen?
Gröszers Selbstbildnisse sind Protokolle einer Suche, von „Berufung“ bestimmt, aber auch belastet („Selbst mit blauem Schal“, 2006). Mal hält er auch die magische Glaskugel in der Hand. Diese suchende, bekenntnisartige Intensität haben auch seine weiblichen Porträts und (Akt-)Figuren, die psychologische Studien sind, mitunter so „aufgeladen“, dass der Maler mit ihnen bekennt, dass sie unter den gleichen Neurosen leiden. Der fahrige, intuitive Feder- oder Pinselstrich macht deutlich, dass sie auch Außenseiter sind. Die Bildoberfläche wird so transparent und flackernd, als ob der dargestellte Charakter zu sensibel wäre, um bloßgestellt zu werden. Die Stimmung des Bildes ergibt sich aus den fahlen, gebrochenen Tönen und den kalten, dichten Farben. Aber dann haben die Akte auch wieder blasphemische Schärfe, die Frau nicht mehr als manipulierbares Opfer, wie es sich noch die Surrealisten vorstellten, sondern in ausgeprägtem Selbstbewusstsein, in ihren körperlichen Metamorphosen – mit sexueller Aggressivität wissen sie dem männlichen Blick gegenüber standzuhalten.
Gröszers Bildtheater, die drängende Fülle im Figurativen, die Flächen mit einer bis zum Bersten miteinander verknäulten Personage erfüllt, und seine Porträts und (Akt-)Figuren als psychologische Erkundungen – sind das die Pole in seinem Bildwerk?
Aber da werden in der Ausstellung noch seine bildhauerischen Arbeiten gezeigt, Köpfe, teils mit hoheitsvoller Kopfbedeckung, Figurenfragmente, die Gröszer mit dem Titel „Engel“ versehen hat. Ein Engel mit aufstrebenden Flügeln, ein Engel auf der Weltkugel. Sind das stumme Boten aus dem Paradies, Überlebende aus der Natur in einer überfüllten Zivilisationsgesellschaft, unschuldige Zeugen der Ereignisse vor oder eher nach dem Sündenfall? Auch auf Gröszers Grabstätte auf dem Evangelischen Friedhof in Berlin-Friedrichshagen erhebt sich eine fragmentierte Engelsfigur – verbirgt sich hinter dem Traum von einer menschenwürdigen Gesellschaft die bittere Erkenntnis, dass es keine heile Welt geben wird?
Gerade diese Rätselhaftigkeit, die Unergründlichkeit machen Gröszer so modern und fordern immer wieder zur Auseinandersetzung mit seinem Werk heraus.
Galerie Brusberg „Wunderkammer“, Friedbergstr. 29, Berlin-Charlottenburg, Ausstellung: Clemens Gröszer „Versuchung“ bis 15. Juni, Homepage: www.galerie-brusberg.de.
Schlagwörter: Bildwelten, Clemens Gröszer, Klaus Hammer, Malstrategie