Am 11. November 1895 lud der „Verein junger Kaufleute“ per Annonce in der Stralsundischen Zeitung zum Vortrag der Schriftstellerin Ottilie Stein in das Stralsunder „Hotel Bismarck“ ein. Ihr Thema: „Das Wesen der Frau – ihre Tugenden und Fehler“. Nichtmitglieder des Vereins konnten Eintrittskarten für eine Mark, Schüler für 0,70 Mark erwerben.
Ottilie Stein veröffentlichte Erzählungen und Gedichte, die wohl zur Erbauung und Belehrung gedacht waren, in verschiedenen Büchern und Zeitschriften (unter anderem 1887 und 1891 in der „Bibliothek für die reifere christliche Jugend“ und 1888 im achten Jahrgang „Deutsches Dichterheim“). Sie war Mitglied des Hauptausschusses der 1871 gegründeten „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“. Die Gesellschaft stellte vermeintlich einseitig materiellen und sozialistischen Bestrebungen „Aufklärung, Belehrung und dauernde geistige Entwickelung“ entgegen, wie die Gartenlaube 1872 schrieb, und versuchte die prekäre Volksschulbildung durch Volksbildung zu ergänzen, mit dem „Endzwecke der Erziehung freier, denkender Menschen“. Mitbegründer waren der Fabrikant und Sozialpolitiker Fritz Kalle, der Philologe Franz Leibing und der Sozialreformer Hermann Schulze-Delitzsch und andere. Den Gründungsaufruf hatten auch der Verleger und Buchhändler Franz Gustav Duncker, der Zoologe und Schriftsteller Alfred Brehm und der Verleger Julius Knorr unterzeichnet.
Zugleich gehörte Stein zu den „Wanderlehrern“, die „volksthümliche Vorträge über wichtige Angelegenheiten des öffentlichen Lebens und Gegenstände von allgemeinem Interesse“ hielten. Stein behandelte vor allem Themen, die sich mit häuslicher Erziehung und Frauenbildung befassten, und reiste dazu in viele Städte. Ihre Ausführungen charakterisierten einerseits das damals herrschende Frauenbild und zeigten andererseits, wie begrenzt der Rahmen für dessen Veränderung unter den Bedingungen des Kaiserreiches war.
Ottilie Stein, „die bekannte Kämpferin für Frauenrecht und Frauenwürde“, wie es in einem Pressebericht hieß, stellte an den Beginn ihres Vortrags eine Frage, „die zu allen Zeiten von der gelehrten Männerwelt aufgeworfen“ wurde: „Was ist das Weib, ist´s ein Engel oder ein Teufel?“ Die Frau sei weder das eine noch das andere, sondern ein Mensch, ausgestattet mit allen Vorzügen, aber auch allen Fehlern eines Menschen, meinte die Vortragende. Diese Vorzüge und Fehler seien zwar nicht die gleichen wie die des Mannes, ihrem Werte und ihrer Zahl nach hielten sie sich mit jenen jedoch die Waage, woraus die Gleichwertigkeit beider Geschlechter folge.
Anhand zahlreicher Zitate zeigte Stein, dass es unter den Dichtern und Denkern zu allen Zeiten sowohl begeisterte Lobredner als auch Kritiker und Schmäher des weiblichen Geschlechts gegeben habe. So habe Dumas das Weib als „ein nothwendiges Uebel“ bezeichnet. Dagegen forderte Schiller, die Frauen zu ehren, „sie flechten und weben himmlische Rosen ins irdische Leben“. Ihr Fazit: Licht und Schatten seien bei beiden Geschlechtern etwa gleich verteilt, zumindest bestehe auf moralischem Gebiet kein Rangunterschied.
Grundzug des weiblichen Lebens sei die Liebe und so resultierten aus dem Liebesleben der Frauen ihre Putz- und Gefallsucht, ihr oft durch übertriebenes Gefühlsleben getrübtes Urteil und der Mangel an Logik, ihre Eifersüchtelei und Klatschsucht, ihre Sensibilität und Nervosität, ihr oft übertriebenes Phantasieleben, ihre Unbeständigkeit, ihre Rachsucht und ihr Widerspruchsgeist. In die rechten Bahnen gelenkt, könnte die Liebe der Frau aber auch deren Vorzüge und Tugenden hervorbringen: ihre Selbstverleugnung und Opferfreudigkeit, ihre Barmherzigkeit und Hingabe, ihre Sanftmut und Demut, ihre Gottergebenheit und Glaubensstärke, ihr klagloses Dulden und Leiden, ihre Resignation und Heldenhaftigkeit, vor allem aber ihre Mutterliebe und Muttertreue. Wenn des Mannes Sinnen und Trachten vorwiegend darin gipfle, glücklich zu sein, „so ersehne das echte, rechte Weib das höhere Ziel, andere glücklich zu machen“.
Die Rednerin schloss ihren „gedankenreichen, formgewandten“ Vortrag mit einer Legende, die den „hübschen, versöhnlichen Grundgedanken hatte, dass des Weibes liebster Wohnplatz – des Mannes Herz sei“.
Die wenige Informationen über die Vorträge Ottilie Steins lassen kein Urteil darüber zu, ob sie tatsächlich „Kämpferin für Frauenrecht und Frauenwürde“ war oder mit ihren „Erklärungen“ des Wesens der Frau vielmehr das bestehende Frauenbild bei ihren Zuhörern festigte. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man die von Ottilie Stein aufgezählten „Fehler“ der Frauen vergleicht mit entsprechenden Ausführungen im 1834 bis 1838 in Leipzig erschienenen „Damen Conversations Lexikon“: „Je gebildeter die Frauen, desto leichter die Einsicht in ihre Pflicht, desto eher die bescheidene Anerkennung nothwendiger Beschränktheit“, persönlicher Unzulänglichkeit und der „daraus folgenden Abhängigkeit vom Manne, als einem Freunde und Führer“.
Übrigens: Eine vergleichbare zeitgenössische Abhandlung über das Wesen des Mannes, seine Tugenden und Fehler, ist mir bei meinen Recherchen bisher nicht aufgefallen.
Schlagwörter: Dieter Naumann, Frauenrechte, Ottilie Stein, Volksbildung