27. Jahrgang | Nummer 9 | 22. April 2024

So, dann!

von Gerhard Müller

Ich habe das Glück gehabt,

alles in der DDR erlebt zu haben,

und bin immer noch für die DDR.

 

Peter Sodann (2023)

 

Er hieß Peter Sodann, aber wir nannten ihn Gomorrha – nach dem biblischen Ort, der berühmt war wegen der forschen Freigeistigkeit seiner Bürger.

Wir – das war eine aufmüpfige Studentengruppe von Exmatrikulationskandidaten zu Beginn der 1960er Jahre an der Leipziger Karl-Marx-Universität, die heute nach niemandem benannt ist. Wir waren kommende Wirtschaftswissenschaftler, Journalisten, Juristen oder Kunstwissenschaftler, die ihren Staat nicht abschaffen, sondern verbessern wollten. Helene Weigel brachte diese Haltung auf den Punkt. Als sie auf einem Studentenforum in Bad Saarow von dem Gastspiel des Berliner Ensembles in Paris berichtete, stellte ein linientreuer Student die naive Frage: „Aber, Genossin Weigel, war es Ihnen nicht zuwider, mit Brecht vor dem Klassenfeind spielen zu müssen?“ Die kleine große Helene Weigel erhob sich, ging nach vorn und sagte freundlich: „Ach, weißt du, mein Kleiner, übern Berg wohnen auch Leute.“ Das hätte Gomorrha ebenfalls sagen können, es war seine Devise. Sein Leben lang spielte für die „Leute übern Berg“, dort wie hier, in Ost und West.

Gomorrha studierte Wirtschaftswissenschaften, Jura und Theaterwissenschaften. Er war der geborene Kabarettist, und wenn er die Bühne betrat, erstarrten die Hüter der „wahren Lehre“ zu Salzsäulen wie einst Lots Weib. Jetzt ist er in Halle an der Saale gestorben, und mit ihm ein Stück sozialer Kritik- und Protestkultur.

Als Tatort-Kommissar Bruno Ehrlicher wird er in den Zeitungen (Ehrlicher als die meisten“, Süddeutsche Zeitung) gepriesen; aber er war weit mehr – ein ostdeutscher Charakterkopf. „Sein gesellschaftliches Engagement und seine politischen Einmischungen werden uns fehlen“, ließ sich der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) vernehmen.

Am Anfang stand eine proletarische Tragikomödie, die Sodanns Leben prägte. Als Student der Wirtschaftswissenschaften (wie ich mich erinnere) und der Jurispudenz (wie es in den Zeitungen steht) an der „Wiwifak“, der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, fand er schnell Gleichgesinnte, deren Lebenselixier der Spott war. So entstand das Studentenkabarett „Rat der Spötter“, das weniger an Wirtschaft oder Staat interessiert war als an dem Spott darüber. (Der DDR-Obrigkeit womöglich schon wegen der Namensanspielung auf „Rat der Götter“, einen der ersten DEFA-Filme, der die Verstrickungen des I.G. Farben-Konzerns in die Verbrechen des Hitler-Regimes thematisiert hatte, suspekt.) Mit seinen Mitstudenten, darunter Ernst Röhl, der später populäre Autor des Satire-Magazins Eulenspiegel, machte Sodann ein Kabarett, das bald die berühmte „Pfeffermühle“ in den Schatten stellte und den Geist von Werner Finck, Kurt Tucholsky oder Karl Valentin wiederlebte.

Unter dem Pflaster des Nikolai-Kirchhofes entdeckten Sodann und seine Mitspötter einen verschütteten Keller, den sie (ohne Baugenehmigung) zu einer kleinen Brettl-Bühne umbauten. Der Grafiker Rolf Herschel stattete diese mit frivolen Wandbildern im antiken Stil aus. Niemand erhob Anspruch auf den Keller, die Universität nicht und auch die Kirche nicht. „So“, sagte Gomorrha. „dann wollen wir mal …“ So entstand der satirische Kosmos der Leipziger Studenten. Ihre Programme erregten Ärgernis wie Zustimmung. Sie mussten genehmigt werden, ehe sie vor das Publikum gelangten. Doch merkwürdiger Weise kamen sie immer durch. Gomorrha plauderte einmal das Betriebsgeheimnis aus: „Das macht die Theorie vom Kalten Hund.“ Man müsste immer ein, zwei politisch ganz falsche Szenen einbauen, die den Zorn der Zensoren erregten. Auf die konzentriere sich dann auch die Kritik und sie würden folglich gestrichen, aber die andren kämen durch.

Der Monat August gehörte Kultur. Das Akademische Orchester fuhr mit seinem Chef Horst Förster ins Probenlager auf der Thüringer Leuchtenburg, andere zur Erntehilfe ins Oderbruch, und der „Rat der Spötter“ in ein mecklenburgisches Dorf. Doch im August 1961 wurde die Mauer errichtet, und an die Stelle von Sport und Spiel traten politische Schulung und vormilitärischer Drill. Gomorrha dachte sich in seiner mecklenburgischen Abgeschiedenheit etwas Besonderes aus. Er beschloss, die deutsche Revolution, die wegen des Krieges 1945 ausgefallen war, mit dem Kabarett nachzuholen. Er besorgte sich eine Rotarmistenuniform, eine Budjonny-Mütze und ein Luftgewehr, borgte sich ein Pferd von der LPG, ritt hoch zu Ross durch das Dort und verkündete die sozialistische Weltrevolution.

Statt Gelächter löste er Entsetzen aus. Der Parteisekretär und der Bürgermeister erzitterten in der Annahme, sie hätten den Alarm überhört, und sahen sich schon nach Sibirien marschieren. Nach ein paar Stunden klärte sich das auf, aber inzwischen hatte die Sicherheitsmaschinerie zu arbeiten begonnen. Sie entdeckte eine konterrevolutionäre Verschwörung und ließ die Studenten umgehend verhaften und unter Anklage stellen. Allerdings fanden die Richter keine Anzeichen für einen Staatsstreich und ließen auf höhere Weisung Gnade walten, oder was sie darunter verstanden. Ein Jahr später kam es aus vergleichbar nichtigem Anlass dann doch zu einem Prozess, der mit Bewährungs- und Gefängnisstrafen endete. Ein Jahr später jedoch waren alle rehabilitiert und studierten weiter. Mit einer Ausnahme. Ein Student versuchte, mit einer Luftmatratze die Kieler Bucht zu überqueren, und kam dabei ums Leben.

Der „Rat der Spötter“ lebte nicht wieder auf, aber Jahre später schrieb Christoph Hein seinen polemischen Roman „Der Tangospieler“ über diese Ereignisse.

Was als Tragödie begann und als bittere Komödie endete, war die Geburtsstunde der kritischen Kultur der DDR nach dem Mauerbau. Der Ton änderte sich. An die Stelle der Lobpreisungen trat die kritische Distanz. Eulenspiegel, der den Herrschenden auf der Nase herumtanzt, wurde der neue Held, die Satire der verdeckte und oft schwer greifbare Hintergrundrauschen nicht weniger Kunstwerke. Wodurch der „Rat der Spötter“, der kritische Geist des Projektes, quasi seine grandiose Auferstehung erlebte. Ich nenne als Beispiele nur den „Drachen“ in der Inszenierung von Benno Besson am Deutschen Theater und Paul Dessaus auf dem gleichen Sujet beruhende Oper, Volker Brauns „Hinze und Kunze“-Berichte, Georg Katzers Oper „Das Land Bum-Bum“, die Gemälde und Grafiken von Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer. Die Satire, nicht das heute grassierende Genre Comedy, war der Stoff, der die Kultur des „Leselandes“ DDR nicht unwesentlich prägte, und Peter Sodann ist einer ihrer Initiatoren gewesen.

Am Ende sammelte er die weggeworfenen Bücher aus der DDR und errichtete sich mit ihnen ein eigenes Denkmal in Form einer historisch-kritische Leihbibliothek in Staucha bei Riesa. Sie befindet sich – wie kann es anders sein – an einem Platz, der nach dem Thomas Müntzer benannt ist.