27. Jahrgang | Nummer 8 | 8. April 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal „Sterben Lieben Kämpfen“ – Berliner Ensemble / „90s Forever“ – Wintergarten-Varieté

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BE: Schriftstellers Leid und Größe
Reichlich 4000 Seiten radikal narzisstische Selbstentblößung einschließlich diverser Essays über Literatur und Wirklichkeit, Schreiben und Schreibblockaden, Künstlertum und Gesellschaft. Der latent depressive norwegische Autor Karl Ove Knausgard, Jahrgang 1968, hat das penible Protokoll seines konfliktreichen Lebens von Kindheit an in sechs Bände gepresst unter dem Titel „Min Kamp“, erschienen zwischen 2009 und 2011, übersetzt in 30 Sprachen, dekoriert mit zahlreichen Auszeichnungen (in Deutschland der Welt-Literaturpreis 2016).

Da listet also ein Macho-Kerl total pingelig ohne Rücksicht auf sich selbst und alle Beteiligten (einige initiierten Gerichtsprozesse) auf, wie das war und ist mit einem gewalttätig herrschenden Alkohol-Vater, einer überforderten Mutter, einem nach Erfolg gierenden Schreiber, einem exzessiv lebenden Außenseiter. Mit einem von Kleinkindern, einer bipolar gestörten, gleichfalls literarisch ambitionierten Ehefrau, einem vom ätzenden häuslichen und außerhäuslichen Alltag sowie dem verzweifelten Ringen um den Sinn des Daseins überhaupt ach so grauenvoll Gebeutelten.

Knausgards Leserschaft reagierte teils hingerissen, teils aber auch irritiert oder gar angewidert – peinlicher Zwang eines Exhibitionisten zum Voyeurismus. Immerhin: Ein komplizierter Fall, allemal aufregend genug, um ihn jetzt auch ins BE zu bringen unter dem Motto „Sterben Lieben Kämpfen“; es zitiert die Titel von drei der sechs Bände des dramatisch epischen Text-Monsters.

Die Bühne: Bettina Meyers illustriert ein ziemlich ranziges Zuhause, wie man sich’s gern vorstellt bei Schriftstellers in deutlich ungeordneten Verhältnissen: Wie hingestreut auf einem Wimmelbild Bücherwand mit Schreibtisch und Schreibmaschine, Klo, Küchenzeile, Klappsofa, Nasszelle, Vorgartenidyll.

Yana Ross, die litauisch-amerikanische Regisseurin, filterte für ihr Script etwa 40 Blatt mit diversen Szenen aus Knausgards Textorgie. Da knallts, krachts, schreits, winselts und tobts in allen Registern zwischen den Eheleuten (Gabriel Schneider und Kathleen Morgeneyer) wie zwischen Karl Ove und seinem Papa, Bruder, Onkel, Freund. Enorm niederschmetternder Lebensalltag eben. Und eben ein bisschen zu viel davon. Das meist aufgepeitschte Ensemble stürzt – freilich gekonnt arrangiert! – von Situation zu Situation. Zwangsläufig bleiben da die Figuren einigermaßen platt.

Allein die große Kathleen Morgeneyer schafft es, ihre vielen Kurzauftritte locker in eins zu binden: In die schwere Tragik einer zwischen unglücklicher Ehe, Mutterschaft und versucht eigenständigem Künstlertum zerriebenen, immerzu in Nervenzusammenbrüche getriebenen stark-schwachen Frau. Das ist suggestiv gespielt. Und herzzerreißend.

Alles in allem: In höchstens zwei Stunden wäre all das interessiert hinzunehmen. Doch es folgt noch ein lähmend längliches, dickes Ende: Karl Ove findet im Nachlass des offensichtlich alt-nazistischen Vaters ein Exemplar von Hitlers „Mein Kampf“. Knausgard schließt nun seine eigene schwierige Jugend kurz mit Hitlers frühem, freilich erniedrigend scheiternden, aber folgenreichen Versuch, eine Künstlerkarriere als Maler einzuschlagen. Auch das im Prinzip nicht uninteressant. In einer von der Regie als Menetekel wohl mutig gedachten comicartigen Verkürzung jedoch, eingebettet in ein ausladend kabarettistisches Nummernprogramm, wirkt das höchst befremdlich, ungekonnt, peinsam.

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Wintergarten: Artistenglanz und Pop-Juwelen
Eine donnernde Parade weltberühmter Hits der Popmusik vermischt mit atemberaubenden Glanzstücken internationaler Artistik – das Paraderezept für eine tolle Show. Da hat der Wintergarten schon mal nix falsch gemacht. Körperkunst und Musik gilt schließlich als Grundlage für jedes Varieté-Programm.

Vor einem Jahr war es „Woodstock“. Jetzt wird die so erfolgreiche Reihe Hits & Acrobatics fortgesetzt mit Knallern aus den 1990er Jahren: „schrill, süß, laut, schön und schnell“, so die verheißungsvolle Ankündigung. Stimmt! Vor allem aber stimmt: „Laut“. „I‘m Too Sexy“, „It’s My Life“ oder „Let Me Entertain You“ donnert die Band im Fortissimo (die große Pauke wird emsig überstrapaziert). Da muss das präzis intonierende und glamourös agierende Gesangsquartett mit Wucht die Stimmbänder spannen, um ordentlich mitzuhalten bei den hinreißenden Songs von Take That, Cher, Roxette oder Guns N’Roses, den legendären Boy- und Girlgroups mit Hardrock, HipHop, Britpop.

Nun ja, vielleicht hat unsereins allzu verzärtelte Gehörgänge, denn das Publikum ist trotz des orchestralen Dauerwumms, der die Feinheiten und Eigenarten der grandiosen Lieder meist übertüncht, schwer begeistert.

Dabei bleibt verwunderlich, dass die internationale Schar der Körperkünstler nicht die lebenserhaltende Konzentration verliert bei ihren so wagehalsigen Kunststücken. Etwa beim Balancieren in unglaublicher Höhe auf einem gefährlich wackelnden Turm aus Töpfen und Rollen oder einer (weltweit wohl einmaligen) Jonglage gleichzeitig mit Füßen, Händen und fünf Bällen.

Der von Regisseur Frank Müller mit sicherem Sinn für Kontraste zusammengestellte Mix von Artistik in luftiger Höhe oder am Boden mit Rollschuhen, Zaubereien, schillernden Hula-Reifen oder modern Dancing im Schneegetümmel erfüllt hohe Ansprüche ans Staunen, an Schönheit und Nervenkitzel. Einfach große Klasse.

Vielleicht bremst der Band-Leader Lex Schäfer noch – wenigstens ein bisschen – seine so kraftvoll loslegenden Herren. Und man nimmt das üppig bunte Video- und Lichtgeflimmer ein wenig zurück zugunsten konzentriert kontrapunktischer Effekte. Schließlich tobt das Entertainment noch bis in den Sommer (21. Juli). Da wäre doch noch – freundschaftlicher Tipp! – gut Zeit für ein bisschen Work in Progress.