27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Die „Tragik der Allmende” und der End-of-Fish-Day

von Jürgen Leibiger

Als Anfang März die Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO über den Abbau der weltweiten Fischerei-Subventionen ergebnislos abgebrochen wurden, erreichte Deutschland gerade seinen „End-of-Fish-Day“. An diesem Tag verbraucht Deutschland für das laufende Jahr rein rechnerisch die letzten, unter deutscher Flagge gefangenen oder in Aquakultur erzeugten Fische und Meeresfrüchte. Die Fische für den Konsum der übrigen 10 Monate müssen – wiederum rechnerisch – anderswo gefangen werden; sie werden von der deutschen Fischfangflotte entweder aus internationalen Gewässern geholt oder importiert.

Viele Fanggründe in den Weltozeanen sind stark überbeansprucht; die jeweils ausgehandelten Fangquoten werden kaum eingehalten und können nur schwer kontrolliert werden. Jährlich werden weltweit um die 90 Millionen Tonnen Fisch gefangen; noch einmal so viel wird in Aquakulturen erzeugt. Etwa ein Drittel der kommerziell verwerteten Fischarten gelten als überfischt und 60 Prozent der Arten stehen kurz davor. Die Einschränkung der Subventionen auf diesem Gebiet soll die weitere Aufrüstung der Fangflotten begrenzen, aber die großen Fischfangnationen, allen voran China, das mit riesigem Abstand den meisten Fisch anlandet, aber auch die Lobby der industriellen Fischerei hierzulande wehren sich dagegen. Die Weltmeere sind auch von anderen Gefahren bedroht: Verschmutzungen durch Einleitung und Verklappungen von Zivilisationsmüll (wozu auch die vom grünen Minister Habeck jüngst ins Spiel gebrachte CO₂-Ablagerung unter dem Meeresboden gehören würde) oder die Gewinnung von fossilen und metallischen Rohstoffen. Der World Wide Fund For Nature (WWF) bezeichnet das Scheitern der WTO-Verhandlungen als „Persilschein, den Raubbau an den Meeren fortzusetzen“.

Das eigentlich fortschrittliche Konzept von der „Freiheit der Meere“, wie es Hugo Grotius vor vierhundert Jahren proklamierte, hat in der bisherigen Form seine Grenzen erreicht. Auch Adam Smiths Überlegungen von der „unsichtbaren Hand“, wonach die Marktkräfte dazu führen, dass egoistisches Handeln automatisch zur Steigerung des Allgemeinwohls führe, bestätigt sich nicht. Private Profite sind vielmehr mit öffentlichen Verlusten erkauft. In der jüngeren Geschichte war es vor allem der US-amerikanische Ökologe Garrett Hardin, der 1968 in einem Artikel „The Tragedy of the Commons“ („Die Tragik der Allmende“) diese Fragen aus eigentumstheoretischer Sicht untersucht hatte. Ein auf die individuelle Nutzens- oder Profitmaximierung gerichtetes Handeln führe bei allgemein zugänglichen, aber begrenzten Ressourcen unweigerlich zu ihrer Übernutzung und schade letztlich auch den so handelnden Wirtschaftssubjekten. Im ökonomischen Mainstream wird daraus nicht selten geschlussfolgert, das Gemeineigentum – die Allmende – sei Ursache der Übernutzung und die Privatisierung und Kommerzialisierung der entsprechenden Ressource würde zu rationalerem Handeln und der Zurückdrängung der Übernutzung führen.

Obwohl Vieles an Hardins Konzeption kritikwürdig und sogar falsch ist, wird er mit dieser Schlussfolgerung doch fehlinterpretiert. Hardin nennt die Ausrottung der Fischbestände der „freien“ Weltmeere zwar als Beispiel für sein Prinzip, aber eigentlich ging es ihm vor allem um das Bevölkerungswachstum und den daraus abgeleiteten Ressourcenverbrauch. Hier vertrat er eine konservative, sogar antihumane Position und plädierte für eine strikte, von Robert Thomas Malthus inspirierte und moralisierende Regulierung. Den Begriff der Commons beziehungsweise der Allmende verwendet er völlig unpassend, denn die historische Allmende war gut reguliert, um die Übernutzung der Weideflächen und Fischgewässer zu vermeiden. Und das gilt durchaus auch für viele Güter, die sich heute in Gemeineigentum befinden. Zumindest diese Kritik hat Hardin später auch anerkannt, und einen Artikel nachgeschoben, wo er zugibt, er hätte besser von der „Tragedy of the Unmanaged Commons“ schreiben sollen. Den Begriff der Commons habe er zudem eher metaphorisch für völlig frei zugängliche Güter benutzt. Hardins Überlegungen treffen am ehesten auf Niemandsland zu und die Weltmeere gehören streng genommen eher unter diese Kategorie subsumiert. Der Kern seiner Aussage wird bei einer solchen Einordnung unbestreitbar richtig: Völlig frei nutzbare und natürlich begrenzte Güter werden unter der Prämisse „freien“, egoistischen Handelns der Wirtschaftssubjekte übernutzt. Das Gemeinwohl wird dadurch – wenn auch vielleicht erst über längere Zeiträume und nach mehreren Generationen – beeinträchtigt. Zurecht verweist Hardin darauf, dass seine Aussage nicht neu ist und führt historische Vorläufer, unter anderem Aristoteles, an. Aber sein Artikel kam 1968 zu einer Zeit, als die Ressourcenproblematik in der Tat zu einer existenziellen Frage der Menschheitsentwicklung geworden war, und sie hat zurecht einen Platz in wissenschaftshistorischen Anthologien gefunden.

Auch wenn in internationalen Dokumenten die Meere als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ betrachtet werden, gehören sie niemandem. Sie im Sinne eines „Die Welt gehört uns allen“ als ein Common zu definieren, ist eher ein moralischer Anspruch als ein ökonomischer Fakt. Das mindert aber eingedenk Hardins Überlegungen nicht die Notwendigkeit, ernsthaft darüber nachzudenken, wie ihre weitere Übernutzung verhindert werden kann. Da die Menschheit mangels eines justiziablen Subjekts oder einer Weltregierung nicht als Eigentümer fungieren kann, bedarf es also internationaler Abkommen zur Nutzung der Weltmeere. Solche Abkommen existieren durchaus seit langem. Das UN-Seerechtsübereinkommen, das viele Nutzungsarten der Ozeane regelt, wurde vor dreißig Jahren abgeschlossen und im vergangenen Jahr wurde mit dem UN-Hochseeschutzabkommen ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung getan. Das Abkommen trat Anfang dieses Jahres in Kraft, als es von über 60 Regierungen ratifiziert worden war. All diese Schritte sind wichtig, um die Ozeane in „gemanagte“ freie Ressourcen zu verwandeln. Abgesehen davon, dass dieses Abkommen nur von 70 Staaten unterzeichnet wurde, liegen die Schwierigkeiten allerdings im Detail. Konkrete Schutzgebiete müssen von den betroffenen und interessierten Staaten wiederum erneut verhandelt werden. Die Regulierungsinstitutionen wie zum Beispiel die Internationale Meeresbodenbehörde sind zwar mit erheblichen Rechten ausgestattet, aber letztlich funktioniert die Durchsetzung der Regelungen nur über den Verhandlungsweg und vor regulären oder Schiedsgerichten. Die WTO ist ein gutes Beispiel dafür, wie wirkungslos das sein kann. Seit die USA die personelle Besetzung der WTO-Streitschlichtungs-Gremien verhindern, ist diese Organisation weitgehend blockiert.

Und wie auf vielen anderen Gebieten auch ist die lückenlose und wirksame Kontrolle solcher internationalen Abkommen gar nicht möglich. Die globale Fischfangflotte besteht, wenn nur die größeren Einheiten gezählt werden, aus etwa 1,2 Millionen Schiffen und die betroffenen ozeanischen Gebiete sind unermesslich groß. Eine vollständige Überwachung der Fischfangaktivitäten ist aus Kostengründen nicht zu leisten. Das wäre auch dann nicht möglich, wenn im Sinne der Forderung einer „privatization of everything“ oder jener historischen „Einhegungen“ die einzelnen Fanggebiete einzelnen Nationen als eine Art eingeschränkten Eigentums zugeschlagen oder verpachtet würden, um einen Anreiz zu deren Schutz zu schaffen. Auch der Wald, in dem ich spazieren gehe, hat, obwohl er sich in Privatbesitz befindet, immer wieder seine illegalen Müllkippen. Die Kosten für eine Kontrolle sind dem Eigentümer einfach zu hoch.

Welche Lösung hatte Hardin vorgeschlagen? Die Marxsche Verteilungsformel des Kommunismus „… jedem nach seinen Bedürfnissen“ würde jedenfalls nicht funktionieren, schrieb er. Und weiter: „Es gibt keine technische Lösung. Es bedarf einer grundlegenden Erweiterung der Moral.“ Die bloße Erweiterung moralischer Prinzipien, so notwendig sie sein mag, wird freilich kaum ausreichen, um das Problem zu lösen. Wird sie jedoch als Einschränkung des herrschenden Profitprinzips und nationaler Egoismen verstanden, könnte sie durchaus etwas bewirken. Und wird die Schaffung internationaler Behörden und ihre Ausstattung mit entsprechenden Befugnissen als Moment einer technischen Lösung betrachtet, so bliebe auch das nicht wirkungslos.