27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

In der Bibliothek

von Renate Hoffmann

THULB. Hinter der Kurzform verbirgt sich die „Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek“ in Jena mit einem rund 4 Millionen-Bestand. In den 4 Millionen verbergen sich etwa 3400 Handschriften, in denen wiederum ungefähr 350 mittelalterliche Schriften vom 9. bis zum 16. Jahrhundert enthalten sind. Ein Kulturerbe von unschätzbarem Wert. – Am Anfang stand die Fürstlich Sächsische Bibliothek („Bibliotheca Electoralis“) von Wittenberg.

Hergang: Nach der verlorenen Schlacht bei Mühlberg (1547) büßten die Ernestinischen Herrscher viele ihrer Besitztümer ein, durften aber Gebiete von Thüringen und bewegliches Gut aus dem persönlichen Besitz behalten. Die „Bibliotheca Electoralis“ gehörte dazu. Ein Glücksumstand. Befördert durch den Besiegten Johann Friedrich I., dem Großmütigen, wurde der bibliophile Schatz in Kisten und Fässer verpackt und im Jahr 1549 über Weimar nach Jena gebracht.

Mit Respekt stehe ich vor den überwiegend großformatigen Bänden der „Bibliotheca Electoralis“. In ihnen sind auch die Porträts der beiden Ursammler zu finden: Friedrich III., der Weise, und der engagierte Johann Friedrich I., der Großmütige. Gebildet und mit klugem Blick der Eine, machtbewusst, streitbar und zu Taten bereit, der Andere (wie er heute noch auf dem Jenaer Marktplatz residiert).

Die Prachtbände sind auf Pergament geschrieben, ihre Buchdeckel reich verziert und oft von kunstvoll gearbeiteten Schließen zusammengehalten. Zierlich gestaltete oder in Miniaturen eingebettete Initialen eröffnen das Schrifttum. Jeder Buchstabe ist ein Kunstwerk. – Herausragender Besitz ist die „Jenaer Liederhandschrift“, entstanden um 1330. Sie vereint Dichtung und Musik auf geniale Weise. Was berühmte Dichter damaliger Zeit in Worte fassten, unter ihnen Heinrich von Meißen (Frauenlob) und Wizlav von Rügen, wird gleichzeitig mit einer Notenschrift versehen. Der Auftraggeber der musikalischen Anthologie bleibt unbekannt (sicherlich war es ein Sangesfreudiger).

Das „Fest-Evangelistar“ (ein Evangelienbuch mit sämtlichen Texten des Neuen Testaments) wurde auf Wunsch Friedrich III., des Weisen, 1507 in Nürnberg gefertigt. Ein Beispiel hoch entwickelter Buchkunst des 16. Jahrhunderts. Die Miniatur einer Kreuzigungsgruppe verrät die Vorlagen von Albrecht Dürer und Martin Schongauer. – In tiefer, stiller Trauer steht Maria zur Seite des Kreuzes. Als könne er das Geschehene nicht begreifen, richtet Johannes die Augen ins Leere. Am Fuße des Kreuzes kniet verzweifelt Maria Magdalena. Sie hat einen Menschen verloren, den sie verehrte. Über dem Querbalken des Kreuzes schwebt eine weiße Wolke. Spiritus Sanctus? Den Hintergrund bildet eine Hügellandschaft. – Vor der menschlich berührenden, ausdrucksstarken Szene möchte man sich verneigen.

Ebenfalls aus der Sammlung der „ Bibliotheca Electoralis“ stammt eine Sammlung von elf Chorbüchern. Einzigartig in Schrift, Gestaltung und Notation … und in Größe und Gewicht. Eines von ihnen erhielt Friedrich III., der Weise, als Geschenk von Kaiser Maximilian I.. Ausmaße: 78,5 cm x 55 cm; Gewicht: 25 kg (um 1513 / 1514).

Von besonderem Wert sind Drucke und Schriften vor, während und nach der Reformation. Geschichte, die bislang weit entfernt schien, wird plötzlich lebendig. Bücher, die Martin Luther und Philipp Melanchthon in der Hand hielten und mit kritischen Randnotizen versahen; Briefe, die bislang vage Umstände klären; Flugschriften. Man erfährt von Luthers Grobheiten und von seiner Liebe zur Musik; lernt Weggefährten und Gegner näher kennen. Und so manches offenbart Ähnlichkeiten mit Handlungen der Gegenwart.

Hergang: Der päpstliche Stuhl benötigt dringend Finanzen, vor allem für den Neubau des Petersdoms in Rom. Der Ablasshandel kommt ins Spiel. Erzbischof Albrecht von Brandenburg erlässt 1516 zwei Instruktionen („Instructio summaria“), die das Geschäft mit dem „Petersablass“ beleben sollen. Die praktische Durchführung übernimmt der Ablassprediger Johann Tetztel. Luther erfährt von dessen Umtrieben. Er formuliert als Gegenpart die 95 Thesen und gibt sie am 31. Oktober 1517 in Wittenberg bekannt. Am gleichen Tag noch überstellt er sie an Albrecht, seinen kirchlichen Vorgesetzten und bittet ihn um Rücknahme der Instruktionen. Es geschieht nicht. Der Streit entbrennt. Aus Rom kommt die Aufforderung an Luther, er möge innerhalb von 60 Tagen 41 seiner Thesen zurücknehmen. Das geschieht auch nicht! Exkommunikation und Reichsacht folgen.

Großartig und weitgreifend bleibt Luthers Idee und Umsetzung, die Grundlagen der christlichen Lehre: Bibel und Heilige Messe ins Deutsche zu übertragen. Die Kostbarste unter den Kostbaren der Sammlung ist wohl die „Deudsche messe und ordnung Gottis diensts. Martinus Luther ordnung der meß.“ In Wittenberg 1525 / 1526 in drei Auflagen gedruckt. Den Titel umrandet eine Zierleiste aus der Werkstatt des Lucas Cranach d. Ä. – Am 29. Oktober 1525 fand in der Wittenberger Stadtkirche erstmals eine deutsche Messe statt. Luther hielt die Predigt, und der Diakon Georg Rörer, ein Getreuer des Reformators, feierte den Gottesdienst. Rörer: „An diesem Sonntag habe ich in Wittenberg zum ersten Mal eine deutsche Messe gesungen.“ – Und am 9. Oktober 2015 erhielt das Exemplar der THULB von der UNESCO den Status eines Weltdokumentenerbes. Es handelt sich hierbei wahrscheinlich um den einzigen noch vollständig erhaltenen Druck (B) aus der zweiten Auflage.

Über die Jahrhunderte hinweg entwickelte sich die Sammlung durch Aufnahme von Nachlässen und Bibliotheken berühmter Gelehrter und bedeutender Persönlichkeiten zu einer Schatzkammer von Wissenschaft und Kunst, die gleichzeitig den Wandel der Zeit widerspiegelt und die Tür offenhält für menschenwürdige Neuigkeiten.

Ad utilitatem omnium.