27. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2024

Der Gesang des trojanischen Pferdes

von Gerhard Müller

Wer nach Troja kommt, gewahrt einige Steinhaufen, von denen die Archäologen einst behaupteten, es handle sich um die Stadtmauern von Homers Troja, um das Dardanäische Tor und den Palast des Priamos. Daneben, auf dem Parkplatz, steht das berühmte trojanische Pferd, das aussieht wie ein gigantischer Esel und auf seinem Rücken statt eines Sattels eine Art Gartenhütte mit zwei Fenstern trägt. An den Bauchseiten befinden sich je fünf Fensterluken. Dieses Holztier, versichert der Fremdenführer, sei eine getreuliche Nachbildung des mythischen Streitrosses, das Odysseus einst erfand.

Darauf sollen die kriegserfahrenen Trojaner hereingefallen sein, nachdem sie ihre Festung zehn Jahre lang gegen eine zehnfache Übermacht verteidigt hatten? Das Brettergebilde war ein Spott. Bis heute streitet die Wissenschaft darüber, wen dieser trojanische Esel symbolisiert – die Griechen oder die Trojaner.

Das Pferd, aus dessen Bauch Odysseus mit 20 oder mehr Kriegern gekrochen sein soll, tauchte in dem Moment auf, als das griechische Heer nach der vergeblichen Belagerung abzog – oder floh? – und verwandelte die vermutliche Niederlage in einen Sieg und den kaum bekannten Ithaker Odysseus in einen genialen Feldherrn. Wie Homer erzählt, zogen die Trojaner den rätselhaften Holzesel als Trophäe in ihre Stadt, wofür sie sogar noch einen Teil ihres Westtores abbrachen und einen gepflasterten Weg anlegten, was den Griechen später die Eroberung erleichterte.

Ich stehe auf den Trümmern des Westtores und blicke hinüber zum Ägäischen Meer. Die einst geräumige Hafenbucht ist verlandet, das Meer um vier Kilometer zurückgewichen. Links vermute ich die Insel Tenedos, in deren Buchten sich die erfundenen griechischen Schiffe verbargen, rechts die Insel Samothrake, von deren bewaldeten Höhen Poseidon die Schlacht beobachtete. Hinter mir liegt das Ida‑Gebirge mit dem Wohnsitz des Zeus. Krächzend schießen Vögel durch die Luft. Das Pferd bleibt stumm. Von einem homerischen Gesang lässt es nichts vernehmen.

Später, in einer türkischen Gaststätte an einem Mühlen­bach, treffe ich Homer selbst, oder jedenfalls einen, der ihn vortäuscht. Während wir uns an langen Tischen niederlassen, stimmt der Sänger seine archaische Gitarre. Er scheint aus der „Ilias“ entlaufen zu sein, ein zwar nicht blinder, aber doch furchtbar schielen­der Alter mit narbigem Gesicht und fleckiger Kleidung. Mit überraschend wohltönender Stimme singt er in fremder Sprache lange, exotische Lieder, alte Balladen und Ge­schichten, und jeder gibt ihm ein wenig Geld, wofür er sich würdevoll bedankt.

So muss einst Homer durchs Land gezogen sein und an den Königs­höfen für Brot und Wein seine Lieder vorgetragen haben. Je sensationeller sie waren, desto größer waren Erfolg und Einnahmen. In der Antike stritten sich sieben Städte um die Ehre, Homers Geburts­stadt zu sein. Heute glauben Wissenschaftler nur noch an eine einzige: Izmir, das früher Smyrna hieß und als Hauptstadt aller Gauner, Lügner und Betrüger galt. Homer war vermutlich einer von ihnen. Er lebte davon, dass er unterhaltsam die Welt erklärte. Erklärungsbedürftig war vor allem die Frage, warum das mächtige Troja von den Achaier genannten Griechen besiegt wurde und untergegangen war, ehe es der Mecklenburger Johann Ludwig Heinrich Julius Schliemann wieder ausgrub. Homer verwandelte Mordfälle in Heldentaten und Niederlagen in Siege. So entstanden die Heldenlieder der „Ilias“ und der „Odyssee“.

Die „Ilias“ schildert den Kampf um Troja und endet mit dem Begräbnis des Trojaners Hektor, ein hölzernes Pferd kommt darin nicht vor. Erst in der „Odyssee“, die vom Untergang des griechischen Heeres, der Selbstvernichtung des Atridengeschlechts und Odysseus‘ Irrfahrten und Leiden handelt, taucht das Pferd auf. Es schwebt auf den Wolken der Poesie herbei.

In der „Ilias“ berichtete Homer gleichsam als antiker rasender AP-Korrespondent von den Kriegsereignissen, als wäre er Augenzeuge gewesen. In der „Odyssee“ dagegen werden Taten und Leiden des Odysseus aus zweiter Hand erzählt, von professionellen Entertainern wie Phemios oder Demodokos, dem Sänger am Hofe des Königs Alkinoos. Odysseus selbst wird erst im fünften Gesang eingeführt. Ein Unbekannter, der unbeachtet im Dunkeln saß, tritt hervor und erklärt, er sei der Dulder Odysseus, der Erfinder des trojanischen Pferdes und der wahre Held des Griechentums. Er erzählt neue Geschichten, und alle will er selbst erlebt haben, die Liebesaffären mit der Nymphe Kalypso und der Zauberin Kirke, die Abenteuer bei den Kikonen und Lotophagen, die Blendung des einäugigen Kyklopen Polyphem oder den Ausflug in die Unterwelt. Alkinoos ist hingerissen, glaubt alles und bittet den Fremden zu bleiben, bis ihm ein würdiges Ehrengeschenk bereitet sei. Großzügig erwidert der Bettler, als wäre er ukrainischer Präsident:

„Wenn ich mit vollerer Hand in mein liebes Vaterland kehrte,
Weit willkommener würd’ ich da allen Männern in Ithaka sein.“

 

Alkinoos erweist ihm königliche Ehren:

„Deine ganze Gestalt, Odysseus, kündigt mitnichten
einen Betrüger uns an, noch losen Schwätzer…,
der Lügen erdichtet, woher sie keiner vermutet.“

 

Aber genau das ist er. Auf solchem Grunde kommt das trojanische Pferd ins Laufen, und wir vernehmen den trügerischen Gesang, die Eselsode vom Untergang Trojas. Mit dem Holzpferd verspottete er die Trojaner als Dummköpfe, die den Krieg verloren hätten. Das griechische Heer war kampflos abgezogen und angeblich im Meer versunken. Niemand am entfernten Hof des Alkinoos konnte das jedoch bezeugen.

In Wahrheit wird das Pferd ein sogenannter Sturmbock gewesen sein. Homer machte daraus ein Pferd und ließ es zuerst vor Telemach erscheinen. Das gibt eine neue phantastische Erzählung. Telemach, Sohn des Odysseus, ist auf der Suche nach seinem Vater beim spartanischen König Menelaos, der einst zum Krieg gegen Troja aufrief, weil ihm der Trojaner Paris seine Gattin Helena geraubt hatte. Jetzt finden wir Helena wieder am Herd bei ihrem Gatten, eine griechische Hausfrau, die Wolle spinnt und die Gäste mit ägyptischem Kräuterwein bewirtet. Sie nimmt den Faden der Odysseus-Geschichten auf und erfabelt, wie Odysseus als Bettler Troja auskundschaftete. Menelaos muss es bezeugen – und tut es. Einen berühmteren Helden als Odysseus habe er nie getroffen, sagt er brav, aber das Kühnste sei die Sache mit dem „gezimmerten Rosse“ gewesen, „worin wir Fürsten der Griechen alle saßen und Tod und Verderben gen Ilion brachten”. Damit wird das erfundene Pferd zur historischen Tatsache.

Das zweite Mal, berichtet Homer, wird das Pferd vom Sänger Demodokos am Hofe des Alkinoos bemüht. Wieder nur eine Erzählung, kein Tatsachenbericht, die Schilderung eines antiken Gastmahls. Demodokos singt von den Taten des Odysseus. Der nackte Mann im Lammfell der Königstochter, der noch unerkannt in der Runde sitzt, bittet ihn schließlich, auch „von des hölzernen Rosses Erfindung“ zu singen, und Demodokos singt:

„Allda stand nun das Roß, und ringsum saßen die Feinde,
hin und her ratschlagend. Sie waren dreifacher Meinung:
Diese, das hohle Gebäude mit Erze zu spalten,
jene, es vom hohen Felsen zu schmettern, andre,
es einzuweihen zum Sühnungsopfer der Götter.”

 

Zum dritten Mal erscheint das Ross in der Erzählung des Odysseus von seiner Reise in die Unterwelt. Nachdem auch Demodokos die Fabel vom trojanischen Pferd als Wahrheit berichtet hatte, untermauert Odysseus die Glaubwürdigkeit seiner Reise in den Hades mit neuen Einzelheiten. Er erscheint als der eigentliche Sieger von Troja, Achill ist tot, Agamemnon ermordet; Menelaos lebt noch, aber ruhmlos, und Helena plaudert viel. Nur Odysseus, der eigentliche Held all dieser Geschichten, fehlt noch. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Da durchfährt den unbeachteten Bettler eine blitzartige Idee. „Ich, ich selbst bin der Odysseus, von dem hier geredet wird“, ruft er aus.

Das ist das Triumphlied des Schwindels, und das trojanische Holz­pferd das gezimmerte homerische Gelächter über die menschliche Leichtgläubigkeit. Der politische Sinn der „Odyssee“ bestand in der Begründung des griechischen Anspruchs auf die Dardanellen. Die Meerenge war der antike Suez-Kanal. Wer sie beherrschte, kontrollierte den Ost-West-Handel. Griechen, Perser, Römer, Byzantiner, Osmanen, Briten, Russen und Türken führten deshalb jahrhundertelang Kriege. Die Kriege dauern an. Kriegsberichte aus dem Nahen Osten oder der Ukraine lesen sich wie moderne Fortsetzungen antiker Literatur. So lässt Homers Dichtung an moderne Kriegsberichterstattung denken. Doch kein moderner Achill warnt die heutigen Achaier mit den homerischen Worten:

„Preise nicht tröstend den Tod, Odysseus.
Lieber möcht’ ich fürwahr als Tagelöhner das Feld baun,
als die Schar vermoderter Toten beherrschen.“