26. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2023

Hermann Budzislawski über sein Leben

von Gert Billing

Weltbühne (Wb.): Herr Professor, wie wurden Sie Journalist? Wird man als Journalist geboren?

Prof. Budzislawski: Nun geboren wird man ja erst einmal als Säugling. Ich bin in einer kleinbürgerlichen Familie aufgewachsen, die zu den Verhältnissen im Kaiserreich in Opposition stand. Wenn man in diesem Geiste groß wird, dann ist es natürlich, daß man nach Möglichkeiten der Betätigung in solcher Richtung sucht. Mein entscheidendes Erlebnis im Kriege war der Tod meines ältesten Bruders; er fiel 1916 vor Verdun. So lernte ich schon als Schüler, den Krieg zu hassen. Ich schrieb antimilitaristische Artikel für Wandzeitungen. Während der Novemberrevolution gründete ich eine Gruppe revolutionärer Schüler.

In Tübingen studierte ich Staatswissenschaft und Nationalökonomie, und 1923 promovierte ich bei dem Reformsozialisten Professor Wilbrandt.

Obwohl damals hoch anerkannt, wäre meine Dissertation zum Thema der „Ökonomie der menschlichen Erbanlagen“ aus heutiger marxistischer Sicht eine eher komische Angelegenheit, und soweit ich mich an diese verschollene Arbeit erinnere, wäre sie kaum zu verteidigen. Ich betrachte es als keinen Verlust, daß sie verlorengegangen ist.

Ich studierte mit der Absicht, Journalist zu werden, worunter ich einen öffentlich für eine bessere Gesellschaft wirkenden Menschen verstand. Ein Jahr lang war ich verantwortlicher deutscher Redakteur der Zeitschrift Industrial and Trade Review for India. Sie wurde von Indischen Emigranten halbmonatlich in Berlin herausgegeben und war ein Sprachrohr der indischen Freiheitsbewegung.

 

Wb.: Sie schrieben Ihre Beiträge englisch?

Prof. Budzislawski: Ja, natürlich wurden sie von einem indischen Mitarbeiter redigiert. Ich konnte mich auf gute Schulkenntnisse stützen und habe damals in der indischen Redaktion fast wie auf einer englischsprachigen Insel in Berlin gelebt. Das ist mir später in den Vereinigten Staaten sehr zugute gekommen.

 

Wb.: Wann verbanden Sie sich mit dem revolutionären Kampf der Arbeiterschaft?

Prof. Budzislawski: Das geschah vor und in der Novemberrevolution, fand aber zunächst keinen organisatorischen Ausdruck. Ich war freier Mitarbeiter an sozialdemokratischen und kommunistischen Blättern. Zeitweilig gab ich auch einen Artikeldienst heraus, der unter anderem Beiträge über den Befreiungskampf kolonial unterdrückter Völker enthielt. Dafür kamen mir meine Erfahrungen aus der indischen Redaktion zustatten. Ich wirkte übrigens gelegentlich auch in der Berliner Funkstunde mit, die, obwohl ein bürgerliches Organ, von linken Intellektuellen genutzt wurde, wenn sich die Chance bot.

Im Jahre 1929 trat ich der sozialdemokratischen Partei bei und kämpfte dort auf dem äußersten linken Flügel für ein Zusammengehen mit den Kommunisten. Auch im Vorstand des Schutzverbands deutscher Schriftsteller und in der Berliner Künstlerkolonie am Breitenbachplatz beteiligte ich mich an den Bemühungen, eine Einheitsfront von Sozialdemokraten und Kommunisten gegen die nahende faschistische Gefahr zu schaffen. In meiner Wohnung vervielfältigten wir die revolutionäre Häuserblockzeitung der Künstlerkolonie. In Zusammenarbeit mit kommunistischen Genossen schrieb ich auch später für illegale Publikationen, bis ich Deutschland verlassen mußte.

 

Wb.: Wie kamen Sie zur Weltbühne?

Prof. Budzislawski: Das war im Sommer 1932. Carl v. Ossietzky saß im Gefängnis. Das Blatt wurde von Hellmut von Gerlach geleitet. Frau Edith Jacobsohn, die über meine publizistische und politische Tätigkeit im Bilde war, lud mich in ihre Grunewalder Wohnung ein und trug mir die Leitung des Blattes an. Das war für mich, einen jungen Mann wenig über dreißig, höchst überraschend. Es kam aber nicht mehr dazu, und ich begnügte mich damit, fortan regelmäßig wirtschaftspolitische Artikel beizusteuern – den letzten, unmittelbar vor dem Verbot der Weltbühne Anfang März 1933, unter Pseudonym.

 

Wb.: Sie waren einer der Letzten, die mit Ossietzky vor seine Verhaftung gesprochen haben?

Prof. Budzislawski: Ja, am 27. Februar 1933 vormittags. Wir vereinbarten noch einen Beitrag, der dann als Leitartikel der nächsten Nummer erschien. Ein sehr ausführliches Gespräch hatte ich mit ihr am 17. Februar, an jenem Abend, als er auf der Versammlung des Schutzverbands deutscher Schriftsteller in den Teltower Kammersälen am Halleschen Tor seine berühmte Rede gehalten hatte, eine Rede, in der er zum äußersten Widerstand gegen die herannahende Barbarei aufrief.

Ich emigrierte dann Ende März 1933 nach Zürich und versuchte von da aus, mit der nach Prag verlegten Wiener Weltbühne zusammenzuarbeiten, die sich nun „Neue Weltbühne“ nannte. Aber ich gab das rasch wieder auf, denn der versehentlich zum Chefredakteur avancierte Willi Schlamm öffnete das Blatt antisowjetischer Hysterie und arbeitete auf die Spaltung der antifaschistischen Kräfte hin.

Frau Edith Jacobsohn, die mich in dem Züricher Vorort Neubühl aufstöberte und ebenfalls dorthin zog, war genauso unzufrieden mit Schlamm und fragte mich: „Übernehmen Sie die Weltbühne? Andernfalls kann ich mit Schlamm nicht brechen.“

Ich akzeptierte. Schlamm wurde aus der Redaktion entfernt, und ich übernahm die „Neue Weltbühne“; später übernahm ich auch den Verlag mit allen Rechten, Mein erster Prager Artikel im März 1934 befaßte sich mit dem Gebot der Stunde: alle antifaschistischen Kräfte im Kampfe gegen Hitler zu einigen. Dafür mußte der politische Boden bereitet werden. In den Spalten des Blattes führten Sozialdemokraten und Kommunisten eine fruchtbare Diskussion zu dieser Frage. Man darf wohl sagen, daß damit auch die Neue Weltbühne einen wichtigen Beitrag zur Einigung der antifaschistischen Kräfte gegen Hitler geleistet hat.

 

Wb.: Kisch brach sich bei der Landung in Australien ein Bein. Welches war Ihr gefährlichstes Erlebnis, Herr Professor, und welches das heiterste?

Prof. Budzislawski: Da muß ich erstmal überlegen… Ja, vielleicht ist in dieser Geschichte beides enthalten. Sie passierte im September 1940, bei unserer Flucht aus Frankreich. Ich bin in vier französischen Internierungslagern gewesen, zuletzt in Bassens bei Bordeaux. Kurz vor Abschluß des Waffenstillstands kam ich da heraus, suchte meine Familie und fand sie, wie durch ein Wunder, in der Dordogne.

Es war mir gelungen, ein amerikanisches Staatenlosenpapier zu erhalten, mit Durchreisevisa, eine unbezahlbare Kostbarkeit, denn ich stand auf einer Auslieferungsliste der Waffenstillstandskommission. Aber mir fehlte das französische Ausreisevisum. Darum nachzusuchen wäre einer Selbstdenunziation bei den Nazis gleichgekommen. Wir beschlossen also, bei Cerbere hinter Perpignan illegal die Grenze nach Spanien zu überschreiten.

Als der Zug in Cerbere einlief, wurde er von Garde mobile umstellt, allen Reisenden wurden die Papiere abgenommen. Es hieß, daß täglich nur 25 Personen über die Grenze fahren dürften. Wir sollten warten, bis unsere Namen auf der Tagesliste am Bahnhof veröffentlicht würden. Dabei mußte dann herauskommen, daß ich kein Visum besaß, man würde sich genauer mit meiner Person befassen, einer Person, gegen die ein Auslieferungsantrag bestand und auf deren Kopf die Nazis, wie ich gehört hatte, einen Preis gesetzt hatten. Meine Papiere lagen schon bei der Grenzwache, ich saß in der Falle, wir mußten weg, und das sofort.

Ich stellte mich hinter den 25 Leuten, die an diesem Tage fahren sollten, als sechsundzwanzigster an und fragte den Beamten ganz unschuldig: „Ich finde mich durch die vielen Bestimmungen nicht mehr durch. Braucht man denn, um nach Spanien zu kommen, auch ein Ausreisevisum?“ – „Aber selbstverständlich! Haben Sie denn keins?“ – „Nein“. – „Dann fahren Sie zurück nach Perpignan und besorgen es sich!“ – „Ja natürlich, das werde ich gleich tun. Aber dazu brauche ich meine Unterlagen …“ Der Beamte händigte mir nichtsahnend meine Papiere aus – und noch am selben Abend kletterten wir über die Pyrenäen.

 

Wb.:Ohne Führer, ohne Kompaß? Einfach so: über die Pyrenäen?

Prof. Budzislawski:Was blieb uns übrig. Ich weiß heute kaum noch, wie wir es geschafft haben. Mein Vater, 77 Jahre alt, war krank und wurde von meiner Frau mehr geschoben. Dazu unsere kleine Tochter. Ich war aus der Lagerzeit noch sehr geschwächt. Ich hatte weder Hut noch Mantel, trug einen Anzug, den mir ein tschechischer Genosse geschenkt hatte. Wenigstens waren wir nicht durch Reisegepäck behindert. Unser Hab und Gut bestand aus einem Netz mit einer Melone.

 

Wb.: Wann kamen Sie in die Vereinigten Staaten?

Prof. Budzislawski: Das war 1940, am 13. Oktober. Ich „entdeckte“ Amerika einen Tag nach Kolumbus …

 

Wb.: Und Sie wurden von Dorothy Thompson „entdeckt“, Sie wurden „Amerikas berühmteste Frau“?

Prof. Budzislawski: Mit Mrs. Thompson kam ich durch den österreichischen Schriftsteller Berthold Viertel zusammen, mit dem ich befreundet war. Wir gingen oft gemeinsam spazieren, und ich äußerte die Vermutung, daß Hitler die Sowjetunion überfallen würde. Viertel erzählte es dem Schauspieler Fritz Kortner, und er erzählte es Dorothy Thompson.

Am 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls, rief mich Dorothy Thompson an, lud mich zu sich ein und wollte wissen, durch welche politischen Schlußfolgerungen ich zu meiner Vermutung gekommen sei. Sie bot mir eine journalistische Zusammenarbeit an. Ich zögerte, ich war ein mittelloser Emigrant und besaß ja nicht einmal die geringe Summe, die für die ersten Ausgaben aus eigener Tasche notwendig gewesen wäre. In einem Augenblick, als wir allein waren, sagte Kortner: „Sie können nicht den Einfluß auf den größten journalistischen Lautsprecher der USA ablehnen, Sie müssen zusagen!“

Das tat ich dann auch. Die finanzielle Frage wurde geregelt, und ich arbeitete vier Jahre lang mit Dorothy Thompson zusammen. Sie war damals eine energische Hitlergegnerin, besaß ausgezeichnete Verbindungen zu höchsten Regierungskreisen, und ihre Kolumnen erschienen dreimal wöchentlich in 175 Zeitungen der USA. Ich kam vormittags zu ihr, wies auf die wichtigsten politischen Neuigkeiten hin und erläuterte die Zusammenhänge. Sie saß dabei an der Maschine und schrieb den Artikel. Ihr Talent bestand weniger im Schöpferischen als in der Kunst, hervorragend zu formulieren. Unter dem Pseudonym Donald Bell schrieb ich außerdem dreimal in der Woche eine eigene Kolumne, genannt The Diplomatie Front, für eine Agentur, die „Overseas News Agency“.

Auf die Artikel, die ich mit Dorothy Thompson verfaßt habe, bin ich durchaus noch stolz. Zum Bruch zwischen uns kam es bei Kriegsende, als ihr ehemaliger Antisowjetismus wieder offen durchbrach. Nach einem Gespräch mit Churchill ging sie so weit, eine Frontschwenkung gegen die Sowjetunion und sogar einen antibolschewistischen Kreuzzug zu befürworten. Ich beendete die Zusammenarbeit mit ihr. Sie hat das nie verstanden, einmal, weil sich meine finanzielle Situation dadurch wieder verschlechterte, zum anderen, weil sie das Gewicht fester politischer Gesinnung im journalistischen Gewerbe nicht hoch veranschlagte.

 

Wb.: Haben Sie auch in den USA im Sinne der Volksfront gearbeitet?

Prof. Budzislawski: Diese Tätigkeit zieht sich durch alle sechzehn Emigrationsjahre.

 

Wb.: Sie haben nach Ihrer Rückkehr aus den USA 1948 jahrelang als Professor für Zeitungswissenschaft und dann als Dekan der Fakultät für Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig gewirkt. War das nicht eine große Umstellung für einen Mann, der ständig in der aktiven Pressearbeit an vorderster Front gestanden hat?

Prof. Budzislawski: Sicher, aber es war ja meine eigene „Schuld“, ich hatte den Ruf nach Leipzig akzeptiert. Nach der Rückkehr sagten mir die Genossen im „Haus der Einheit“ in Berlin: „Es besteht ungeheurer Mangel an Journalisten. Vielleicht ist es schade, daß du selbst nicht mehr so aktiv sein kannst, aber wir verlieren lieber einen Journalisten, wenn wir dadurch eine Vielzahl von marxistischen Redakteuren gewinnen.“

Bei dem Bemühen, dem gerecht zu werden, hat es vielleicht auch gelegentlich Pannen gegeben. Wenn sich die Zeit fand, arbeitete ich auch hin und wieder im Rundfunk und in der Presse mit. Obwohl unser Fakultätskollektiv sich auf einige sowjetische Erfahrungen stützen konnte, war es nicht einfach, die Grundlagen der marxistischen Wissenschaft von der Journalistik herauszuarbeiten und einen im Theoretischen wie in der praktischen Ausbildung fähigen Lehrkörper zu schaffen. Die Fakultät ist natürlich nicht von mir persönlich entwickelt worden, aber ich habe doch mitgewirkt, und ich bin froh, daß die Journalisten, die aus ihr hervorgegangen sind, beim Aufbau des Sozialismus und in der Auseinandersetzung mit feindlicher Ideologie im großen und ganzen ihren Mann gestanden haben. Wir verfügen heute über einen großen Stab fähiger Journalisten, die genau wissen, wofür sie arbeiten, und mancher Künstler, der, wenn auch besten Willens, dieses Ziel manchmal aus dem Auge verliert, mag sich an ihnen ruhig ein Beispiel nehmen.

 

Weltbühne 6/1966. Die Schreibweise des Originals wurde weitgehend beibehalten.

 

Hermann Budzislawski war bis zum Verbot der Weltbühne durch die Nazis im März 1933 zunächst freier Mitarbeiter, fungierte in den 1930er Jahren zeitweise als Chefredakteur und Herausgeber des Blattes im Prager Exil und übernahm nach dem Tode von Hans Leonhard die Chefredaktion nochmals von 1966 bis 1971.

 

Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, mögliche Inhaber der Rechte an den Weltbühne-Publikationen von Hermann Budzislawski und Gert Billing zu ermitteln. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.