Am 22. Oktober verstarb im hohen Alter von 94 Jahren die Germanistin und Publizistin Waltraut Engelberg, Sie galt zu Recht, war aber weit mehr, als die kongeniale Mitarbeiterin ihres Ehemanns, des Historikers und Bismarck-Biographen Ernst Engelberg (1909-2010), mit dem sie in zweiter Ehe verheiratet war.
Waltraut Duchatsch wurde am 19. August 1929 im niederschlesischen Langenbielau (heute Bielawa) geboren. Ihr Geburtsort lag 1844 fast im Zentrum des Schlesischen Weberaufstandes, dem Heinrich Heine in einem seiner einprägsamsten Gedichte und Gerhart Hauptmann in einem frühen Drama literarische Denkmäler setzten. Wirtschaftliche Not, doch auch politische Unterdrückung lernte Waltraut Duchatsch bereits als Heranwachsende kennen: Ihr kommunistischer Vater wurde von den Hitlerfaschisten ins Konzentrationslager gesperrt.
An einem Weihnachtsabend begleitete Waltraut auf dem Akkordeon ihre Familie, die – leise, denn man musste Vorsicht walten lassen – das bekannteste deutsche Weihnachtslied mit dem bitteren Text ausstattete: „Stille Nacht, traurige Nacht, alles schläft, einsam wacht nur das arme, doch heilige Paar. / In der Hütte herrscht Elend und Not grau und öde, kein Licht und kein Brot, schläft die Armut auf Stroh.“
Auch die antifaschistische Familie Duchatsch musste nach dem Krieg Schlesien verlassen. An der Leipziger Universität hatte Waltraut das Glück, in den wenigen Jahren, in denen Leipzig eine Glanzuniversität war, bei einigen der bedeutendsten Wissenschaftler ihrer Zeit zu studieren: bei Hans Mayer, Werner Krauss, Walter Markov, Ernst Bloch und Fritz Behrens. Hans Mayer erwählte sie zu seiner Assistentin, und bei ihm wurde sie 1956 mit dem Thema „Kunst und Gesellschaft bei Hermann Hesse“ promoviert. Sie blieb aber auch als Wissenschaftlerin dem proletarischen Milieu, dem sie entstammte, verbunden. So befasste sie sich mit dem nahezu vergessenen Arbeiterdichter Heinrich Kämpchen, der am Ende des 19. Jahrhunderts zu den Wegbereitern sozialkritischer Literatur im Ruhrgebiet gehörte. Sie edierte auch Schriften des vielseitig begabten und weltoffenen KPD-Publizisten Edwin Hoernle, der sich in Inhalt und Stil sehr vorteilhaft vom sektiererischen Gebaren vieler seiner Genossen abhob. Weiterhin forschte und publizierte sie zu Kurt Tucholsky und Ernst Toller. Über Tucholskys Suche nach antifaschistischen Bündnispartnern schrieb sie 1983: „Beim Bürgertum waren die Kräfte, die Wandlung schaffen und wirkungsvolle Barrieren gegen ,Rechts‘ errichten nicht mehr zu suchen; das hatte er auf allen Ebenen, vom mickrigen Spießer bis zum Bourgeois, der sich nach dem Geschäft orientiert, erfahren.“ Wie viel und doch wie wenig hat sich an dieser Konstellation geändert!
Bleibende Spuren hinterließ Waltraut Engelberg als, man darf fast sagen: Mitautorin der meisterhaften zweibändigen Biographie ihres Mannes über Otto von Bismarck, die 1985 – in beiden deutschen Staaten zeitgleich – und 1990 erschien. Ernst Engelberg widmete seiner Frau beide Bände. Doch leistete sie auch selbst wichtige Beiträge zur Bismarck-Forschung. Einem kurzen Doppelporträt des Kanzlers und seiner Frau Johanna von 1990 folgte acht Jahre später die Monographie „Das private Leben der Bismarcks“. Sie porträtierte darin das Paar mitsamt dessen weitgehend unbekannten Seiten zwischen Politik und Poesie. Dabei kam auch Johanna, geb. Putkamer, zu ihrem vollen Recht als zwar politisch nicht engagierte, doch menschlich reife, um das Wohl ihrer Familie und Freunde besorgte und sorgende Persönlichkeit. Die Marxistin Waltraut Engelberg zeigte – ganz ohne pseudo-marxistische Sprücheklopferei – ein bemerkenswertes Verständnis für den hochkonservativen Kanzler, gerade weil sie, wie schon ihr Mann, politisch von der Gegenposition herkam. Wahrscheinlich hat Bismarck, schrieb sie, „seine frühe Überzeugung, dass man gegen den Strom der Geschichte nicht ankommen könne, sondern sich behutsam steuernd auf ihm bewegen müsse, historische Bescheidenheit gelehrt“ – historische Bescheidenheit, die heute manchem Politiker und mancher Politikerin gut anstünde, so diese mit Bismarcks Namen noch etwas anzufangen wissen.
Nicht zuletzt trat Waltraut Engelberg publizistisch vor allem im Neuen Deutschland stets dann hervor, wenn der schludrige Umgang mit Syntax und Grammatik dort überhandnahm. „Die Sprache bringt es an den Tag“, schrieb sie, auf Karl Kraus und Victor Klemperer sich berufend.
Solange die Kräfte es gestatteten, führte Waltraut Engelberg zuerst mit Ernst, dann allein, stets unterstützt von ihrem Sohn Achim, ein gastfreies Haus. Dabei ging es stets um Fragen der Weltpolitik. Waltraut Engelberg überraschte dabei mit Detailkenntnissen, die sie dem regelmäßigen nächtlichen Hören der BBC verdankte – selbstverständlich dem englischsprachigen Programm. Bis zuletzt nahm sie Anteil an der Partei Die Linke, deren Mitglied sie blieb, und an der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, deren Arbeit in Berlin sie mittrug. Sie wird vielen Menschen in dankbarer Erinnerung bleiben.
Eine gekürzte Fassung des Artikels erschien am 25. Oktober 2023 in neues deutschland.
Schlagwörter: Bismarck-Forschung, Mario Keßler, Waltraut Engelberg