26. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2023

Ein Buch als Botschaft

von Herbert Bertsch

Es haben sich zehn Jahre Zuchthaus Brandenburg (Honecker)
und zwei Jahre Auschwitz getroffen.

Joseph Wulf über sein Treffen mit dem SED-Chef
(in Die Zeit 35/1974)

 

Mag es wirklich höhere Fügung oder doch nur simpler Zufall sein, daß ich diese Ankündigung des Fischer-Verlags von diesem 18. Oktober fand: „Joseph Wulf, Autor: „Nationalsozialismus ist keine jüdische Angelegenheit …. Interventionen eines Pioniers der Holocaust-Forschung“? Um zu begründen, worum es dabei geht und warum diese Annotation, nutze ich den Verlagstext:

„Zum 50. Todestag des Pioniers der Holocaust-Forschung Joseph Wulf (1912 – 1974) haben Götz Aly und Detlev Schöttker zentrale Texte des Historikers zusammengestellt. Als polnischer Jude überlebte Joseph Wulf das Konzentrationslager Auschwitz. Kaum befreit, veröffentlichte er in Warschau Dokumente zum Judenmord. […] In Artikeln, Büchern und Dokumentationen thematisierte er früh die aktive Mitarbeit – damals noch lebender – deutscher Künstler, Beamter und Intellektuellen im NS-Staat. Lange Zeit ignorierten deutsche Kollegen seine Arbeiten, nicht zuletzt mit dem Argument, er sei als Jude befangen bzw. nicht objektiv. Joseph Wulf zerbrach schließlich an der Abwehr und Ignoranz, die er erfuhr. An seinen Sohn David schrieb er im September 1974: ‚ Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst Dich bei den Deutschen tot argumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“ Soweit dieser Text.

Der Titel des in Aussicht stehenden Bandes entstammt einem Rundfunk-Interview vom 25. November 1967, das im originalen Zusammenhang so lautet: „Schauen Sie, der Nationalsozialismus ist keine jüdische Angelegenheit, sondern Nationalsozialismus ist eine deutsche Angelegenheit. Sie wissen, es gibt einen wunderbaren Satz von Jean-Paul Sartre: Er verstehe nicht, warum sich die Juden mit Antisemitismus beschäftigen sollten. Es ist eine nichtjüdische Krankheit, sollen sich die Nichtjuden damit beschäftigen. Es ist keine jüdische Angelegenheit.“

Meine Affinität zur causa Wulf hat – wie wohl schon vermutet – seine Begründung. Und die beginnt mit einer kaum aufregenden Notiz in der Tageszeitung Neues Deutschland vom 17. August 1974: „Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED, Genosse Erich Honecker, empfing am Freitag den Historiker Dr. h.c. Joseph Wulf, Autor von 18 Büchern über die Verbrechen des Hitlerfaschismus, zum Gespräch.“ Das war an einem Samstag; mein erster Arbeitstag nach Urlaub der Montag. Ziemlich früh wurde ich per Telefon mit zwei Fragen konfrontiert: Ob ich diese Meldung kenne und gleich danach, ob auch den Besucher. Was ich eingeschränkt bestätigte: Weder hätten wir wohl alle Werke des Autors im Bestand, noch sei ich ihm direkt begegnet. Das reichte wohl aus für den Auftrag, der sich anschloß. Offenbar hatte die Chemie bei dem Gespräch soweit gestimmt, dass der Gastgeber eingeräumt hätte, offenbar wohlwollend zu prüfen, ob in der DDR etwas von Wulf erscheinen könnte. Das Weitere in dieser Angelegenheit war damit ab jetzt bei mir.

Das eine war jetzt die Auswahl aus dem reichen Angebot von Wulf -Titeln, nicht nur unter fachlichen Aspekten, sondern auch hinsichtlich der internationalen Situation. Zur Erinnerung: Die DDR war sehr um den Prozess bemüht, der ein Jahr später bei der Helsinki-Konferenz (3. Juli-1. August 1975) seinen zeitweiligen Abschluss fand. Das Andere war die Organisation einer raschen, qualitativ anspruchsvollen Produktion. Das bezog sich auch auf die Übernahmerechte, was Verhandlungen mit Dritten bedingte. Ich befragte zu den Problemen meinen seinerzeitigen Studienkollegen Jürgen Gruner, der dem Verlag Volk und Welt mit seinem renommierten internationalen Programm als „Fenster zur Welt“ vorstand, der das Projekt übernahm. Rein fachlich hätte sich die Zuordnung zum Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik angeboten, zumal dort im Mai 1968 das „Braunbuch“ erschienen war. Nach den vermuteten Intentionen des Gesprächs von Honecker/Wulf schien dies im Interesse des Autors jedoch weniger günstig.

So vorbereitet und mit guten Nachrichten gerüstet telefonierte ich in Westberlin mit Joseph Wulf. Das war Anfang Oktober 1974. Wir verabredeten für Mitte/Ende Oktober einen Arbeitstermin in seiner Wohnung Giesebrechtstraße 12, vierter Stock. Am 10. Oktober stürzte sich Joseph Wulf dort aus dem Fenster. Offenbar gehörte ich, ein Fremder in seinen Kreisen, zu den letzten Personen, mit denen er gesprochen hat; unser Thema war sein Werk.

Dies war eine neue Situation, die einer Grundentscheidung bedurfte: Das Projekt ohne großes Aufsehen auslaufen zu lassen oder im Sinne der Begegnung weiter zu verfolgen und zum Abschluss zu bringen. Die wichtige Vorfrage dafür war, ob es sich bei der „Prüfung“ um eine Gefälligkeit für den Autor handelte oder um das Kettenglied einer für beide Partner interessanten Konzeption zum großen Thema Juden und die DDR – aber im internationalen Kontext. Sollte die Übernahme eines Textes der westlichen Holocaustforschung eine Botschaft für künftige politisch-wissenschaftlichen Kooperation sein? Dann böte sich die Weiterführung des Projekts an. Ich informierte das Büro Honecker von der Sachlage, ohne die Alternativfrage aufzuwerfen. Erfahrung besagt, dass Bitten um Entscheidung nicht immer gern entgegengenommen werden. Erwartungsgemäß gab es kein Echo, aber immerhin Hinweise, wie es zu dieser Begegnung gekommen war.

Anlass war ein persönlich gehaltener Brief von Wulf von Anfang Juli 1974, in dessen Eingangsteil auf das gemeinsame Schicksal mit Honecker Bezug genommen wurde, unter dem gleichen Gegner gelitten zu haben, was sich nie wiederholen sollte, auch durch gemeinsame Tat dagegen. Nähere Kenner des starken Mannes waren sich schon seinerzeit und später darin einig, dass solche Appelle ihn zutiefst bewegten. So folgte die unverbindliche Einladung. Daraus wurde ein Zwei-Stunden-Gespräch. Dem Umstand konnte man entnehmen, dass es also nicht nur um gegenseitige Komplimente ging. Davon bestärkt, entschieden sich Herausgeber und Verlag, das Projekt weiter zu führen. Auch mit der Intention, dies Buch möge als Signal verstanden werden an alle, „to whom it may concern“. Gewiß auch an die „westliche“ Historikergemeinde; die Holocaustforschung in Sonderheit. Aber Hauptadressat war der Jüdische Weltkongresses, zu dem Wulf in besonders enger Beziehung gestanden hatte.

Seinerzeit hatte ich keinen Einblick in den Brief, den Wulf an den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, als Bericht über seine Initiative und seine Erwartungen an das Ergebnis geschrieben hatte. Darin steht diese merkenswerte Passage: „Ich weiß, daß Honecker, nur ein Glied im Sozialistischen Lager, in diesen Dingen nicht viel tun kann; aber ich weiß auch, daß die Deutsche Demokratische Republik die zweitstärkste wirtschaftliche Macht in diesem Lager ist. […] vielleicht wird er nur zwei Sätze aus unserem Gespräch in einem Gespräch mit Breshnew wiederholen.“ Ob solche Erwartungen jemals realisiert wurden, ist hier nicht bekannt. Sie deuten aber an, was Wulf und Goldmann besonders bewegte, welches ihre eigentlichen Bezugspunkte waren. Schließlich rechnete man zum damaligen Zeitpunkt, dass etwa 20 Prozent der israelischen Staatsbürger der russischen Minderheit zuzurechnen wären – mit Zustrom.

Aber bleiben wir bei der DDR. Ende August 1975, weniger als in Jahresfrist nach Verzweiflung und Freitod von Joseph Wulf und etwa zeitgleich mit dem Abschluss der Helsinki-Konferenz, legten wir aus dem Verlag Volk und Welt einen polygraphisch gelungenen Band auf die vorweihnachtlichen Büchertische in der DDR: Leon Poliakov / Joseph Wulf, Das Dritte Reich und seine Diener. Der Dokumentation vorangestellt hat der Verlag ein einleitendes Kapital, das weitgehend ich als Herausgeber zu verantworten habe. Diese Edition ist international etabliert. Jedenfalls wird in allen einschlägigen Listen diese Veröffentlichung als Teil des Gesamtwerkes von Wulf aufgeführt.

Bei einer umfassenden Würdigung könnte seine erfolgreiche Betätigung als Sonderbotschafter ohne staatlichen Auftrag in der DDR als eine Facette seines politischen Wirkens von allgemeinem Interesse sein.