26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Mad Magic!“ – Varieté Wintergarten / „Planet B“ – Gorki Theater

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Wintergarten: O selige Kindergartenzauberzeit

 

Immer und immer wieder hängt die Frage im Raum: Wie geht das? Wie kann das sein? – Die Antwort: Natürlich unmöglich; geht gar nicht!

Und doch ist es möglich. Vor unseren aufgerissenen, ungläubigen Augen führt man es vor: Da verschwindet ein Hut im Nichts, ein weißes Hemd wird augenblicklich rot, wo noch eben ein Mensch strahlend grüßte, gähnt – o Schreck! – eine Leerstelle, ein süßes weißes Häschen mutiert zum zähnefletschenden Monster oder ein paar ordinäre Spielkarten fliegen hoch und Glitzerkonfetti regnet herab. Wer noch ein bisschen Kindheit in seinen Taschen hat, kriegt den Mund nicht mehr zu. Freilich, wir haben bei Chipperfield & Co. schon tonnenschwere Großfahrzeuge verschwinden sehen, ganz große Oper der Illusionskunst. Doch das scheinbar so simple minimalistische Tricksen mit Spielkarten, Tennisbällen, Kleintieren, sozusagen die Zauberei im Kammerspielformat, bringt uns doch immer wieder auf so ganz besondere, auch sentimentale Art aus dem Häuschen.

Wie diesmal wieder bei „Mad Magic!“ im Wintergarten-Varieté mit seinem immergrünen Motto „Dem Staunen gewidmet“, dem das elegant gestylte Haus auf so wundersame, und man darf sagen: diesmal auf geradezu entzückend kindliche Weise gerecht wird.

Dabei wirkt unterschwellig eine freilich alterprobte Methode: die Verbindung von Zauberei und Humor. Das Zusammenfallen von – je nach Temperament – krachendem Gelächter oder leisem Kichern.

Die Moderation des Amüsemangs ist schon mal ein Sächelchen für sich: Zum einen ist da die sich ungeniert ans Publikum ranschmeißende, frech eloquente, aufreizend schick an- oder ausgezogene Dame Chantal (Berlinisch: Schantall); zum andern der bissig-mürrische Herr Hieronymus aus Berlin-Mahlsdorf Süd, der das Publikum rotzfrech anraunzt (für Nichtberliner etwas gewöhnungsbedürftig). Und der dennoch begeistert mit seinen ganz einfachen aus dem Handgelenk geschüttelten Taschenspielertricks seiner Kindergartenzeit.

Aber es gibt auch den Klassiker „Zersägte Jungfrau“, wenn auch ein bisschen verschroben verschoben ins komisch Verrückte oder den weltberühmten Otto Wessely aus Paris, der gleich ein ganz eigenes, hinreißend virtuoses Extra-Programm abspult aus dem Tollhaus des absurden Theaters. Saftiger Sarkasmus, bittersüß abgeschmeckt mit Zynismen, dazu irrwitzige Tricks mit philosophisch feinen Anspielungen und verpackt in niedere und höhere Blödelei. Eine Art gallige Menschenkomödie im Kleinstformat. Ganz groß; meine Verehrung! Passte in jede Inszenierung von Herbert Fritsch oder in fast jede von Frank Castorf.

Und zwischendurch die ironisch tänzelnden Magic-Girls, Artistik am Trapez, Jonglage mit Ringen und Kreiseln, schwebende Wunderwerke aus Seifenblasen und Rauch, zielgenaue Messerwerfer und Axtschwinger sowie der hochmusikalische, frappierende Kautschuk-Act von Gildo Games aus Angola. Ein Mann offenbar ohne Gelenke. Der Saal erstarrt, dann explodiert Applaus.

Was für ein attraktiv funkelndes internationales Ensemble und noch dazu mit Sinn für Humor, auch abgründigen, sowie blitzende Selbstironie. Rodrigue Funke hat das ganze Abrakadabra-Theater-Varieté locker, luftig, launig und mit perfektem Timing für Pointen und Kurzweiligkeit inszeniert. Gerade das, was so leichthin swingend wirkt, ist schwer zu machen. Es will gekonnt sein! Entertainment vom Feinsten.

Bis hin zum immer wieder dringendst empfohlenen Besuch der Toilette (auch wenn untenrum nix drängt). Dieses Superklo ist ein spektakuläres Gesamtkunstwerk aus romantischer Architektur und Design – mit einem leibhaftigen Pianisten am Flügel im Vorraum. Einmalig in Berlin und sonstwo. Das Extra-plus-Ereignis in der Vorstellungspause.

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Gorki: Aliens spielen Rausschmeiß-Show

 

Wir sitzen erwartungsfroh im Parkett und werden nicht enttäuscht. Denn gleich beim Start des neuen Stücks „Planet B“ vom Autorenduo Yael Ronen und Itai Reicher klären uns sieben reizende, hauteng in glänzendes Schwarz verpackte Humanoiden mit lila Prinz-Eisenherz-Perücken über unsere sensationelle Lage auf. Nämlich: Wir befinden uns in einem Raumschiff irgendwo im Weltall und schauen von dort aus 40 Millionen Jahre zurück auf die Erde. Dort ist die angeblich vernunftbegabte Menschheit gerade dabei, mittels notorischer Ignoranz und Hybris und folglich selbstverschuldet lebensbedrohlichem Klimawandel das fortzusetzen, was bis dahin Asteroiden, Vulkane, Superviren nicht so recht gepackt haben: Das nunmehr bereits sechste Massenartensterben.

Also übernahmen Aliens die Sache und machten kurzen Prozess mit dem Tod vom übrig gebliebenen Rest der Arten. Und weil sie nett sind, die schwarz gekleideten Außerirdischen mit den lila Haaren, und weil sie Sinn haben für Entertainment, organisierten sie für die Abwicklung der Erde ein Spielchen, eine Art Reality-TV-Show, der wir, das galaktische Publikum, amüsiert zuschauen dürfen aus 40 Millionen Jahren Entfernung.

Die Rausschmeiß-Show läuft nach offensichtlich ewig gültigem Muster massentauglicher Unterhaltung. Die uns vorgeführte „Kandidatengruppe H“ besteht aus sieben gegeneinander konkurrierenden „Teilnehmenden“: Huhn, Panda, Ameise, Fuchs, Krokodil, Fledermaus sowie dem die Menschheit vertretenden Boris, Versicherungsmakler aus der Ortschaft Bremen.

Ihre Auftritte zur signifikanten Selbstdarstellung jeweils einzeln oder gemeinsam geben Auskunft über ihre Überlebenschancen, die von der Alien-Jury entsprechend bewertet werden. Womit wir beim Kern dieses Survival-Show-Casts sind. Der sich als grandiose Science-Fiction-Comedy präsentiert, in der ein jedes Tierchen (einschließlich des Menschleins aus Bremen) zum Spiegelbild von Allgemeinmenschlichem wird. – Es lebe das gute alte Verstellungstheater oder anders: die Fabel!

Da wäre das kraftstrotzende Krokodil (Dimitrij Schaad) mit seinem Mackertum, das mit stolzgeschwelltem Panzer schon zwei Massenartensterben überlebt hat, oder der total depressive Panda (Maryam Abu Khaled), der keine Lust hat auf Fortpflanzung. Dann das gockelhaft aktivistische Huhn (Orit Nahmias), das nur knapp Massentierhaltung und Döner-Produktion überlebte. Oder die freche, sexsüchtige Influencer-Füchsin (Alexandra Sinelnikova), die opportunistisch angepasste Großstadtstreunerin. Und die streng kollektivistische Ameise (Aysima Ergün), die einen Moment lang vom selbstbestimmten Dasein jenseits ihrer diktatorischen Königin träumt. Und die Fledermaus von Jonas Dassler als schwer melancholischer Alt-Rocker mit rauer Gitarre und ebensolcher Rachenröhre sowie mühselig versteckter Angst vorm Tod. Und eben Niels Bormann, der etwas feige, etwas verlogene, etwas moralisierende, aber knallhart egoistische Mittelstandskleinbürger von der verdreckten Weser.

Was für ein tolles Ensemble, von Amit Epstein märchenhaft fantastisch mit typisch menschlichen Zeichen kostümiert, das da auf Wolfgang Menardis gefährlich schräg hängender, bereits mächtig ruinierter Erdkugel tobt mit rasendem Pointen-Pingpong, messerscharfem Witz und doch gelegentlichem, sehr berührendem, schmerzlichen Innehalten angesichts einer stürzenden Welt. Regie: Yael Ronen.

Ihr gelingt, auch als Autorin, das eher seltene Kunststück, so ziemlich sämtliche gängigen oder auch überflüssigen Diskurs-Debatten von heutzutage (aus Sicht der Aliens: die Endzeit der Erde) auf unterhaltsamste, auch galgenhumorige Art so einfühlsam wie überzeugend an- und auszuspielen. Und somit unsere unheilschwangeren Gegenwartskrisen poetisch zur Kenntlichkeit zu entstellen. Großartig!