26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

Nobelpreis für Forschungen zur Gender Gap

von Jürgen Leibiger

Werden die weltweiten Fortschrittsraten bei der Schließung der Geschlechterkluft in der ökonomischen Teilhabe von Frauen der Jahre 2006 bis 2023 extrapoliert, dann wird es noch 169 Jahre dauern bis sie geschlossen ist.“ So wird in diesen Tagen die Lage in einem Papier des Internationalen Währungsfonds (IWF) beschrieben. Nach den Daten der Weltbank dauert es nicht ganz so lange, aber doch mindestens noch 50 Jahre. Ja, so lässt sich das lesen, es gibt einen Fortschritt, aber leider ist er zermürbend langsam. Über die Sinnhaftigkeit aggregierter Fortschrittsindizes kann man streiten, aber wenn einzelne Fakten wie Frauenquote, zeitliche Belastung oder Lohn- und Gehaltslücke herausgegriffen werden, wird bei aller starken Differenzierung zwischen den Ländern und Ländergruppen das Bild nicht besser. In nicht wenigen Ländern vor allem des globalen Südens stagniert die Entwicklung auf diesem Gebiet, in einigen Fällen gibt es schmerzliche Rückschritte.

Das Problem ist in der politischen Wahrnehmung und in Regierungsprogrammen zwar angekommen, aber selbst in einem Land mit relativ starker feministischer Bewegung wie Deutschland (sogar die Außenpolitik soll unter Frau Baerbock ja feministisch sein) geht es eigentlich nur holperig oder gar nicht vorwärts. Nachdem es in den 1970er Jahren einen regelrechten Sprung in der Erwerbsbeteiligung von Frauen und bei der Verringerung der Bezahllücke (GPG = Gender Pay Gap) gegeben hatte, ist das Tempo inzwischen wieder geringer geworden. Die Lücke zur Bezahlung der Männer, gemessen an deren Bruttostundenlohn, ist seit über dreißig Jahren nur noch von 24 auf 18 Prozent gesunken, wobei dafür vor allem die Bezahlung der jüngeren Generation verantwortlich war; bei den älteren Jahrgängen hat sich gar nichts getan. In Ostdeutschland, wo die Lücke anfangs viel geringer war, ist sie sogar gestiegen. Bei diesem Tempo dürften die heutigen Leserinnen und Leser des Blättchens das Schließen der Lücke wohl kaum noch erleben.

Vielleicht ist es diese höchst unbefriedigende Situation, die das für die Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises verantwortliche Gremium bewogen hat, die Aufmerksamkeit in diese Richtung zu lenken und eine US-amerikanische Forscherin auf diesem Gebiet, Claudia Goldin, zu ehren. Goldin ist erst die dritte Frau, die ihn erhält, die anderen 90 Preisträger sind Männer und schon diese Relation zeugt von der Dringlichkeit der Frage. Dass bei dem gewählten Thema – die Erforschung geschlechterspezifischer Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt – eine Frau gewürdigt wird, hätte man erwarten dürfen. Forschungen zur ökonomischen Rolle der Frau sind in den Wirtschaftswissenschaften keineswegs neu, Goldin selbst verweist auf Friedrich Engels‘ „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ von 1884 als womöglich frühester wirtschaftshistorische Arbeit auf diesem Gebiet. Die für die Preisvergabe maßgebliche, bahnbrechende Publikation der heute immer noch an der Harvard Universität lehrenden 77-jährigen Goldin („Understanding the Gender Gap: An Economic History of American Women“) erschien 1990. Und seit etwa dieser Zeit hat es dazu eine regelrechte Flut von wissenschaftlichen Arbeiten gegeben. An verschiedenen Universitäten wurden Lehrstühle zu Gender Studies eingerichtet und im Rahmen des sogenannten heterodoxen ökonomischen Denkens hat sich eine Feministische Ökonomie etabliert. Die American Economic Association, die schon immer ein wichtiger Signalgeber für die Verleihung des Nobelpreises war und deren Präsidentin Goldin 2013/2014 gewesen ist, hat sich auf ihren Jahrestagungen zuletzt immer stärker diesem Thema zugewandt. Das jüngste Buch der Preisträgerin zu diesem Thema („Career & Family: Womens’s Century Long Journey toward Equity“) erschien 2021. Es ist zu hoffen, dass ihre Werke bald auch in deutscher Sprache zur Verfügung stehen werden.

Das Vergabegremium würdigt in seiner Begründung die „meisterhafte Analyse der ökonomischen Geschichte der Frauen“; Goldin habe in einer geradezu detektivischen Arbeit neue Fakten über eine Vielzahl der verschiedenen Seiten der Geschlechterdifferenzen an den Arbeitsmärkten geliefert und die Ursachen ihrer historischen Entwicklung und der heute noch existierenden Unterschiede enthüllt. Sie habe die bereits existierenden Forschungsergebnisse zusammengefasst und einen Rahmen entwickelt, in dem Bildung, Fertilität und Produktivität mit dem spezifischen Verhalten und der spezifischen Identität von Frauen sowie dem institutionellen Wandel zusammengebracht werden. Ihre Arbeit habe eine zentrale Rolle dabei gespielt, die Economics of Gender als einen Hauptzweig der ökonomischen Forschung zu etablieren und die Wirtschaftsgeschichte mit der angewandten Wirtschaftstheorie zu verbinden.

So sehr sie Goldins Akribie, Detailversessenheit und Virtuosität in der Handhabung statistischer Techniken betonte, so sehr hätte die Nobelkommission eigentlich auch hervorheben müssen, welche Bedeutung sie dem politischen Kampf der Frauen in den USA bei der Verbesserung der wirtschaftlichen Stellung und in der ökonomischen Gleichstellung im Verlauf des 20. Jahrhunderts beimisst. Mit der Zunahme der Erwerbstätigkeit der Frauen, ihrem wachsenden Anteil an der Gesamtbeschäftigung seien, so schreibt Goldin, auch ihr politischer Einfluss und ihre Organisationsbereitschaft gewachsen. Die Bewegung zur Überwindung der Lohndiskriminierung sei vor allem in den 1920er und dann ab den 1960er Jahren zu regelrechten Massenbewegungen geworden. Hemmnisse auf dem Weg zu mehr Gleichheit waren immer wieder traditionelles Denken, Paternalismus, hergebrachte soziale Normen und Vorurteile und das „Diktat der Profitmaximierung“. Fast alle Fortschritte bezüglich Erwerbsbeteiligung, Stellung in Wirtschaft und Gesellschaft seien Resultate politischer Regelungen, die gegen solche Hemmnisse durchgesetzt werden konnten.

Bis in die Gegenwart schlage sich der allgemeine ökonomische Fortschritt nicht im gleichen Maße bei den Frauen nieder. Mehr noch: Die zunehmende Erwerbsbeteiligung der Frauen habe in letzter Zeit zu einer Verschlechterung bestimmter Aspekte ihres Wohlbefindens (well-being) geführt. Während sie ihre Erwerbszeit ausgedehnt haben, blieb ihre unbezahlte Arbeit im Haushalt und bei der Kindererziehung nahezu unverändert. Ihre Gesamtarbeitszeit sei im Vergleich zu den Männern gestiegen. Ehescheidungen und Trennungen, die stark angewachsen seien, führten außerdem dazu, dass zumeist die Frauen die Kinder aufziehen. Auch deshalb sei die Armut bei Frauen und Kindern wesentlich größer als beim männlichen Teil der Bevölkerung. Diese Einschätzungen stammen allesamt aus ihrer Arbeit von 1990 über die USA, aber sie treffen auch noch heute zu und werden durch jüngste Erhebungen für Deutschland bestätigt. „Geschlechtergerechtigkeit“ – so beschließt sie ihr Buch damals – „kann durch ökonomischen Fortschritt unterstützt werden, er muss aber durch die Gesetzgebung und den sozialen Wandel begleitet werden.“

Goldin stellt sich nicht die Frage der Einbettung der Geschlechterfrage in das Gesamtsystem des Kapitalismus, seiner der kapitalistischen Ausbeutung und der Kapitalverwertung. Das wäre auch kaum zu erwarten gewesen. Für eine solche Erweiterung der theoretischen Analyse hat sie jedoch eine unverzichtbare Faktengrundlage und eine Methodik zur ihrer Auswertung bereit gestellt. Angesichts der für Deutschland vorliegenden Daten ließe sich zum Beispiel die Frage stellen, warum die Stellung der Frau in der alten Bundesrepublik und in der untergangenen DDR so unterschiedlich war. Die Erwerbsbeteiligung der Frau war in der DDR deutlich höher und die Bezahllücke wesentlich geringer. Die GPG lag nach jüngsten Berechnungen des Berliner DIW 1990, dem Jahr des Anschlusses der ostdeutschen Länder an die Bundesrepublik, in Westdeutschland bei über 25, in Ostdeutschland bei nur 10 Prozent. Offensichtlich hat der Charakter des jeweiligen Systems im Guten wie im Schlechten etwas damit zu tun.

Eine Anmerkung zum Schluss: Goldin liegt falsch, wenn sie Friedrich Engels‘ Arbeit von 1884 als früheste Analyse der Wirtschaftsgeschichte der Frau einordnet. Schon fünf Jahre zuvor hatte August Bebel mit „Die Frau und der Sozialismus“ nicht nur reichhaltiges Material über die soziale Stellung der Frau in der Geschichte zusammengestellt, sondern auch die Systemfrage gestellt. Unter dem treffenderen Titel „Women in the Past, Present and Future“ war die Schrift schon 1885 ins Englische übersetzt worden. Sie mag als die Arbeit eines sozialistischen Propagandisten und wissenschaftlichen Autodidakten ihre Schwächen haben, ist aber wohl die früheste historisch angelegte Gender Studie. Mit 52 Auflagen und der Übersetzung in 20 Sprachen noch zu Lebzeiten Bebels war sie ein Riesenerfolg.