26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

In Böhmens Hain und Flur, Mähren nicht zu vergessen … (I)

von Wolfgang Brauer

Jean Paul konnte über das Verzehren eines Wurstzipfels auf einer Wanderung in das Fichtelgebirge – wo sein Wanderer nie ankam … – schreiben, und es entstand große Literatur. Aber das war Jean Paul und ist inzwischen 227 Jahre her. Jean Paul ist lange tot. Seinen Kosmos hatte er sich erlesen. Auch meine Generation ist mit Reiseberichten anderer groß geworden. Die Autoren waren in der Regel Privilegierte, die für eine gewisse Zeit das Zuchtgatter des Neuen Menschen verlassen durften und anschließend den Daheimgebliebenen von der Welt erzählten. Das las sich zumeist wie „Mein schönstes Ferienerlebnis“, gewürzt mit einer mehr oder weniger starken Prise Sozialkritik. Man wollte schließlich Reisekader bleiben. Mehr als literarisierte Geographielehrbücher waren das aber in der Regel nicht. Auch wenn die Textchen, ehe sie zwischen zwei Pappdeckeln Ewigkeitswert beanspruchten, in sich anspruchsvoller gebärdenden Blättern wie der Weltbühne oder dem Magazin abgedruckt wurden. Ich mochte diese Art Literatur nie besonders gut leiden. Zum einen gerann die Selbstheraushebung der Reisendürfenden allzuoft zu blanker Überheblichkeit über die tumbe Hammelherde, die ihre Büchertische auf den Buchbasaren umlagerte. Zum anderen logen die, die meist wahrheitsgetreu über den Alltag im Westen berichteten, in ihren Berichten über den Alltag im Osten, dass sich die Balken bogen. Das machte mir solche Literatur insgesamt verdächtig.

Ich reise gern und oft, und oft juckt der Finger … Zumeist verkneife ich mir aber das Schreiben. Als alter Schulmeister kenne ich die schnippsenden Finger „Ich, ich, ich will das auch erzählen …“ – und dann kommt schon mehrfach Gehörtes. Bei Kindern ist das in Ordnung, das lässt man gerne über sich ergehen und findet – hoffentlich! – freundliche Worte. In der Publizistik ist solch Tun einfach nur ärgerlich. Ein kluger Mensch – sicherlich der Goethe – hat einmal angemerkt, dass der Reisende in der Fremde mehr über sich selbst erfahre, als über die bereiste Gegend. Kann er die Tinte nicht halten, liest man das auch. Nicht immer ist dies im Sinne des Autoren.

Der kleine Essay, den ich hier vorlege, bemüht sich gar nicht erst um den Nachweis meist angelesener Weltweisheit. Er ist durch und durch subjektiv, wiewohl ich mich für die ausgebreiteten Fakten verbürge und die auch belegen kann. Selbst die Entstehung dieses Textes hat einen überaus subjektiven Hintergrund. Die Reise, über die ich berichten möchte, hatte ich seit über 40 Jahren auf dem Schirm. Jetzt ergab sich endlich die Gelegenheit. Die Idee, die Tschechische Republik von der Landschaft ihrer Schlösser und Burgen her besser verstehen zu wollen, stammt von meinem Freund Karel Líbal aus Pardubice. Karel, begeisterter Langstreckenläufer und Liebhaber der Dichtung des Poetismus – einer besonderen Form der tschechischen Moderne –, war es, der mir zeigte, wie durch kunstsinniges Falten des Zwanzig-Kronen-Scheines plötzlich statt des Hussitenführers Jan Žižka von Trocnov das scharf gestochene Porträt Jan Palachs, auftaucht. Palach hatte sich am 19. Januar 1969 voller Verzweiflung auf dem Prager Wenzelsplatz selbst angezündet und sollte dem Vergessen überantwortet werden. Der von Karel Hruška und Miloš Ondráček gestaltete Schein war bis zum Ende der Tschechoslowakei im Umlauf … Mein Freund Karel machte mich mit dem Manifest der „2000 Worte“ und der „Charta ’77“ bekannt, die er wohl auch heimlich verbreitete. Sein tollkühnstes Stück war eine Sammelpetition an den Staatspräsidenten für ein Nachtflugverbot eines Jagdfliegerstandortes am Rande eines Neubaugebietes. Er war der Meinung, „die“ fänden nie raus, wer dahinter steckt. Sie fanden. Karel starb auf tragische Weise durch einen bis heute nicht ganz geklärten Unfall.

Dieser Text ist seinem Andenken gewidmet.

Ein Wort noch zur Schreibung der Ortsnamen. Selbstverständlich verwende ich die tschechische Form, ein Gebot des Respekts dem gastgebenden Land gegenüber. Königgrätz heißt nun einmal Hradec Králové, auch wenn die Umlautzeichen im Deutschen ungewohnt sind. Anders ist es mit der 1866er Schlacht des Deutschen Krieges. Selbst dessen Namensgebung ist anzuzweifeln – auf beiden Seiten fochten Angehörige nicht-deutscher Völker. Aber der Begriff ist historisch.

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Wer von Dresden kommend sich die Zeit nimmt, durch das Elbtal in die Tschechische Republik zu reisen, wird um Ústí nad Labem nicht herumkommen. Für manche ist die Industriestadt mit dem nach Hamburg größten Elbe-Binnenhafen die häßlichste Stadt des Landes. Nach der rabiaten Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist dies auch das Ergebnis zweier verheerender Luftangriffe auf die Stadt durch die US Air Force im April 1945. Es ist heute kaum noch vorstellbar: Die Landschaft bei Aussig gab die Vorlage für Ludwig Richters „Überfahrt am Schreckenstein“ (1837), einem Schlüsselbild der deutschen Spätromantik. Die Burg Střekov gibt es noch. Sie wurde nach 1990 an die Lobkowicz restituiert. Sowohl die Enteignungen und Vertreibungen – Stichwort „Beneš-Dekrete“ – als auch einige zögerliche Restituierungen nach der Samtenen Revolution 1990 sind in Tschechien immer noch Reiz- wenn nicht gar Tabu-Thema. Aussig war eines der Zentren des damaligen Geschehens. Es war eine gute Entscheidung der städtischen Kulturpolitik im Stadtmuseum – es befindet sich neben dem zauberhaften Theater – 2021 in 22 Räumen (!) eine Dauerausstellung „Naši Němci – Unsere Deutschen“ einzurichten. Die höchsten musealen Ansprüchen genügende Exposition unternimmt das Wagnis, 900 Jahre gemeinsame deutsch-tschechische Geschichte zumindest im Überblick aufzuarbeiten. Ein schönes Symbol dafür ist der Lieblingsheilige des Landes, Johann Nepomuk. Radio Prague International bezeichnete ihn 2021 als „bekanntesten Tschechen der Welt“. Allein in Europa soll es über 33.000 Statuen des Heiligen geben. Nepomuk, den König Wenzel IV. 1393 von der Prager Karlsbrücke stürzen ließ, hatte wahrscheinlich einen deutschen Vater. Diese lange Geschichte jedenfalls war für alle Beteiligten immer eine, wenn auch nie konfliktfreie, nutzbringende Symbiose. Das Stadtmuseum zeigt dafür beeindruckende Belege. Schwierig wurde es eigentlich erst mit dem Aufkommen der nationalen Bewegungen in der Zeit der 1848er Revolution. In den heutigen Geschichtserzählungen von links bis halbrechts sind die durchweg positiv konnotiert. Die Ausstellung in Ústí bietet Anlass, dies endlich einmal in Frage zu stellen. Als kaum noch beherrschbar erwiesen sich die vor 1918 unter der Decke brodelnden Nationalitäten-Konflikte nach der Gründung der Republik. Kluge tschechische Politiker wussten um die Gefahren für das junge Staatswesen. „Politisch ist die deutsche Minderheit die wichtigste. Ihre Gewinnung für die Republik wird alle anderen Minderheitsfragen erleichtern.“ Präsident Tomáš Garrigue Masaryk merkte das 1925 an. Masaryk wurde nicht gehört. Den Ton gaben mehr und mehr die Henleins und Beneš’ an. Das Ergebnis ist bekannt. Anzumerken ist, dass die Ausstellungsmacher zum Beispiel das Massaker von Aussig vom 31. Juli 1945 nicht verschweigen. Jüngere Forschungen – die Dokumente wurden 2005 in Ústí nad Labem veröffentlicht – ergaben, dass diese Gräueltat von denselben Leuten wie der Brünner Todesmarsch (ab 31. Mai 1945) aus dem Prager Innenministerium heraus organisiert wurde. Die tschechische Bevölkerung von Aussig hatte damit nichts zu tun.

Diese Ausstellung ist ein „Muss“.

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Dem Schloss Veltrusy und seinem großartigen Landschaftspark – 300 Hektar! – nutzte 2002 der Beistand Nepomuks auch nichts. Veltrusy liegt knapp 40 Kilometer nördlich von Prag unmittelbar an der Moldau. Das Hochwasser stand an den Fenstern des Schlosses, der Park wurde von den Fluten verwüstet. Kaum wiederhergestellt, wurde er 2013 wieder überflutet. Glücklicherweise machte das Wasser knapp vor dem Schlossportal Halt. Dabei ist die Anlage Frucht der Auseinandersetzung des Bauherrn und seiner Architekten und Gartengestalter mit der Moldau und ihren Hochwassern. Graf Václav Antonin Chotek wollte partout ein Insel-Schlößchen für den Sommer und begann mit der 1715 mit den Bauarbeiten. Bis 1754 entstand ein märchenhafter Barockbau, ergänzt mit bezaubernden Rokkoko-Interieurs. Alles maßvoll in Anlage und Ausstattung, fern von in böhmisch-habsburgischen Adelssitzen oft anzutreffendem Prunk und Protz. Selbst der Maria-Theresia-Salon zeichnet sich durch große Zurückhaltung aus. Natürlich zieren ihn die üblichen Staatsporträts der Habsburgerin und ihres Gatten Franz von Lothringen. Aber dort hängt auch ein schönes Gruppenbildnis mit zehn der 16 Kinder des Herrscherpaares. Natürlich drängelt sich Joseph in den Vordergrund, der will schließlich Kaiser werden. Und dessen Lieblingsschwester, die schnippische Maria Antonia, ist auch leicht zu erkennen. Noch ist ihr die künftige Königin von Frankreich nicht anzusehen. Sie wird uns in Mähren wieder begegnen. Bemerkenswert ist in diesem Raum eine große Porzellanetagere. Zwei Drittel des Möbels sind auf die Wand gemalt. Barocke Illusionsmalerei, wie auch im zentralen Kuppelsaal des Schlosses, vom Feinsten! Maria Theresia war nebst Gatten wirklich hier. 1754 organisierte Graf Rudolf Chotek, Sohn des Schlossgründers, in Veltrusy einen „Großen Markt der Erzeugnisse des Königreiches Böhmen“, die wahrscheinlich erste Industriemesse der Welt. Sie soll die Schau inkognito besucht haben.

Veltrusy ist ein Sommerschloss. Das dreiflügelige, sternenförmig angelegte Gebäude mit einer unter dem Mittelbau befindlichen Sala terrena – deren Fresken in der Nachfolge von Stichen Jacques Callots gefertigt wurden – verblüfft, von welcher Seite auch immer man sich ihm nähert. Im Ehrenhof, geziert von einem kleinen französischen Garten und begrenzt von Plastiken aus der Schule Matthias Brauns – der Meister der Prager Karlsbrücke – sollte man die geschwungenen Freitreppen heraufgehen. Der Tiroler Bildhauer Franz Anton Kuen flankierte sie mit beeindruckenden Figurengruppen von Rossbändigern und Jagdhundführern. Wer Gottfried August Bürgers Kampfansage des Bauern „an seinen durchlauchtigen Tyrannen“ nie so recht hat verstehen können, sollte sich das genauer anschauen. Genau solche Tölen hat Bürger gemeint: „Wer bist du, Fürst, daß in mein Fleisch / Dein Freund, dein Jagdhund, ungebläut / Darf Klau’ und Rachen haun?“

Der englische Landschaftspark indes, durch den uns Damhirsch und Eisvogel geleiten, ist eine Schöpfung des Neffen und Erben Rudolf Choteks, des Grafen Johann Rudolf. Der hatte die neuen Gärten in England gesehen und kannte die Schriften des Engländers William Chamber und des Kieler Gartentheoretikers Christian Hirschfeld. Chotek ließ einen Park entstehen, in dem Landschaftsgarten und landwirtschaftliche Nutzung in schönem Gleichklang erscheinen. Ähnliches wurde zeitgleich im anhaltischen Wörlitz versucht. Im Park von Vater Franz war aber die Agrikultur eher Staffage. Wer heutige Verwilderungen des Parks und den misslichen Zustand einiger Bauten beklagt, muss wissen, dass der Verfall schon mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Grafenfamilie vor 1945 einsetzte. Und die ständigen Hochwasser der Moldau tun das Ihrige. 2013 klagte der Melniker Bürgermeister: „Sie haben uns für Prag geopfert“. Er spielte dabei auf die Manager der Moldau-Kaskade an, die nach Meinung vieler Anwohner des Unterlaufes des Flusses erst reagierten, als die erste Scheitelwelle der Flut die „Goldene Stadt“ passiert hatte. Kralupy, Mělník, Ústi und eben auch Veltrusy traf es doppelt so hart.

Das Schloss ist in einem vortrefflichen Zustand.

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Wer kennt eigentlich Kačina? Auch unter Kunstfreunden löst diese Frage oft nur Schulterzucken aus. Das ist unbegreiflich. Schloss Kačina in der Nähe von Kutná Hora gehört zu den Hauptwerken des europäischen Klassizismus in der Palladio-Nachfolge und präsentiert diesen in einer Stilreinheit sondergleichen. Zudem ist es von den Ausmaßen her einer der imposantesten Schlossbauten Böhmens. Allein die Fassade misst 227 Meter! Der Mittelrisalit des Zentralgebäudes – ihn ziert ein Diana-Relief des Wieners Anton Schroth – wird von sechs ionischen Säulen getragen. Im Zentrum des Gebäudes ein monumentaler Kuppelsaal, der nicht von ungefähr an das römische Pantheon erinnert. Der eigentliche Palast wird von zwei viertelkreisförmigen Kolonaden eingefasst – im 19. Jahrhundert waren hier Wohnungen für Gäste und die Dienerschaft untergebracht –, die wiederum in zwei von außen beinahe identischen Seitenpavillons enden. Das Ganze steht auf einer leichten Erhebung. Die – nicht mehr vorhandene – Schlossterrasse ging in einen englischen Landschaftsgarten über, der sich in einen 90 ha großen Landschaftspark öffnet. Der wiederum geht scheinbar ohne jede Begrenzung in die großartige Auenlandschaft über, die die Elbe zwischen Pardubice und Kolín gebildet hat. Atemberaubend schön. Englisch geprägt sieht das Ganze russischer aus, als man es wohl in Russland findet. Johann Rudolf Graf Chotek – genau, der aus Veltrusy – ließ Schloss und Park von 1802 bis 1822 errichten. Chotek war ein mit höchsten Staatsämtern reich bescherter Mann. Bestandteil seiner Karriere war ein Diplomatenposten in St. Petersburg. Dort lernte er wohl auch Schloss Gattschina kennen. Das hatte sich Grigori Orloff, der Günstling der Zarin Katharina, bauen lassen. Gattschina – Kačina … darüber wird immer noch spekuliert. Ja, es gibt Ähnlichkeiten. Aber Orloffs Bau ist der reinste Protz. Kačina hat Stil. Die einstmals beeindruckende Empire-Ausstattung allerdings fiel rüpligen „Zwischennutzungen“ der Weltkriegszeit zum Opfer. Sowohl die Hitlerjugend, die sich nach der Okkupation hier einquartierte, als auch die ihr nachfolgenden Militärkommandanturen hatten für das Möbelholz andere Verwendung. Ab 1950 zog hier eine Filiale des Landwirtschaftsmuseums der Tschechoslowakei ein. Wenigstens sind die riesigen Maschinen, die mich in den 1970ern noch verschreckt hatten, verschwunden. Kačina beherbergt in den beiden Seitenflügeln allerdings immer noch zwei Kostbarkeiten. Da ist das Schlosstheater aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts – samt originaler Kulissen und Maschinerie. Hier werden regelmäßig Vorstellungen für Kinder gegeben. Und im anderen Pavillon die Bibliothek … Schlossbibliotheken waren nach 1800 „in“. Aber diese hier! Zwei Büchersäle flankieren einen kreisrunden, von zwölf korinthischen Säulen umrahmten Hauptsaal. Die meterhohen Bücherschränke wirken so weniger bedrohlich. Diese Säulen tragen eine Galerie, in deren Regalen hauptsächlich Zeitungen und Zeitschriften deponiert sind – und wiederum 12 Säulen, die das Kuppelgewölbe des Raumes tragen. Wem es gelingt, auf die normalerweise nicht zugängliche Galerie zu gelangen, wird angesichts dieses Baus wohl auf die Knie fallen. 34.000 Bände! Darunter so rare Sachen wie eine komplette Ausgabe der 18-bändigen „Description de l’Ègypte“. Von der hatte Napoleon nur zwölf Exemplare binden lassen und bedachte damit auch befreundete Monarchen. Kaiser Franz I. von Österreich schenkte sein Exemplar 1813 dem Grafen Chotek.

Den Entwurf für das Schloss zeichnete ein gewisser Christian Friedrich Schuricht aus Dresden. Der verantwortete gemeinsam mit Goethes Freund Meyer auch das Römische Haus im Weimarer Ilm-Park.

Und was wird um diese bescheidene Hütte für ein Gewese gemacht!

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Es ist ein reines Angeberschloss, auf alt getrimmt – aber ein Neubau auf der grünen Wiese aus den Jahren 1841-1854. Zudem in den Innenräumen durchweg recht düster. Aber ich mag es. Die Kunsthistoriker sagen, es ist eines der bedeutendsten Gesamtkunstwerke des Historismus. Das stimmt, aber Hrádek u Nechanic – knapp ein Dutzend Kilometer westlich von Hradec Králové – ist zuallererst das selbstbewusste Auftrumpfen des Grafen Franz Ernst von Harrach gegenüber dem Fürsten Johann Adolf II. zu Schwarzenberg. Der vertrat 1838 nebst Gattin die Habsburger bei den Krönungsfeierlichkeiten von Queen Victoria. Beiden hatte es Windsor Castle angetan – also ließen sie den etwas heruntergekommenen Barockbau von Hluboká an der Moldau in Südböhmen „auf Tudorgotik“ umbauen. Herausgekommen ist der wahrscheinlich neben dem Hradschin und dem Karlštejn größte Touri-Magnet Böhmens. Das Projekt muss dem Harrach die Neidfalten auf die Stirn getrieben haben. Geld hatte er genug. Neben umfangreichem Grundbesitz gehörten ihm die Hütten am Rande des Riesengebirges. Erzkonservativ und standesbewusst war die Sippe ebenso wie die Schwarzenbergs. Nach der Katastrophe am Weißen Berg, der verheerenden Niederlage der böhmischen Protestanten 1621, wurde ein Harrach Kardinal und Erzbischof von Prag. Harrach wollte, „daß dieses Schloß viele Jahrhunderte hindurch prange als Sitz des glorreichen gräflich Harrachischen Geschlechts“. Sieben Jahre nach der Grundsteinlegung brach auch in Böhmen die Revolution aus, die zumindest das politische System der Grundherrschaft beendete.

Jedenfalls wollte der Graf zunächst Franz Beer, den Architekten von Hluboká, beauftragen. Der sagte ab, so kam der Wiener Karl Fischer zum Zuge. Dem Bau selbst tat das gut, die symmetrisch um einen zentralen – als Turm aufgemotzten – Baukörper angelegte Zweiflügelanlage ist ein ästhetischer Genuss. Zumal man sich auf zwei Geschosse beschränkte. Ähnlichkeiten mit Hluboká sind dennoch da. Klar, man hatte dieselben Vorbilder – und man benutzte dieselben Vorlagenbücher. Das Innenleben hingegen ist etwas ganz Eigenes. Der hochadelige Kapitalist Harrach empfing seine Gäste natürlich in einem Rittersaal mit Harnischen, Wappen und Ahnenporträts – das Portal ließ er aus Schloss Hoheneck in Niederösterreich heranschaffen. Dann folgt ein Highlight dem anderen: der Goldene Saal mit herrlichen Ledertapeten, der Mühlgrubsche Salon, der Speisesaal – in dem endlich auch die Erzeugnisse der heute noch produzierenden Glashütte in Harrachov zur Geltung kommen –, das Spielzimmer und endlich die Bibliothek. Es sind „nur“ etwa 5500 Bände, aber fast die Hälfte in tschechischer Sprache. Für böhmisch-mährische Schlossbibliotheken ein Ausnahmefall. Graf Harrach verstand sich als böhmischer Patriot, natürlich im Bestand des Habsburger Reiches. So verwundert es nicht, dass die Schriften František Palackýs (die mehrbändige „Geschichte von Böhmen“, in der der Autor die Hussiten abfeiert und die Rekatholisierung Böhmens als nationales Unglück darstellt) einen prominenten Platz innehaben. Dem Schwarzenberg wäre das nicht passiert.

Beim Herausgehen sollte man unbedingt einen Blick in das Verwalterzimmer der Harrachs werfen. An der Wand lehnen ein paar Holzski. Der Sohn des Schlossgründers stieß beim einem Norwegenurlaub auf diese winterliche Fortbewegungsart, ließ daheim ein Paar nachbauen – Bedingung: billiger als die Importware! – und verdonnerte seine Förster, ihre winterlichen Revierbegehungen künftig auf Brettern vorzunehmen. Auf solch banale Weise kam der Ski-Sport ins Riesengebirge. Behauptet man jedenfalls in Hrádek u Nechanic.

Ein Ärgernis ist der einst berühmte Schlosspark. Die Bäume stehen noch, der Rest wurde zum Golfplatz umfunktioniert. Dem fielen auch die einst bewunderten Rosenbeete zum Opfer.

Ich warte auf den Moment, an dem Neureichóvs oder andere Oligarchen aus Hrádek ein Golfhotel machen und nur noch Klubmitgliedern den Zutritt erlauben.

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Auf Schloss Ratibořice mussten wir erst einmal Hofknicks und Verbeugung üben. Sonst wäre es nichts mit der Audienz geworden. Auch sonst tanzt das Schloss unter all den großen und berühmten Bauten aus der Reihe. Es ist nur ein kleiner Sommersitz, den sich Anfang des 18. Jahrhunderts Lorenzo Piccolomini, seinerzeitiger Besitzer der Herrschaft Náchod, als Adelsdatsche im italienischen Villenstil errichten ließ. Von 1800 bis zu ihrem Tod 1839 gehörte es, wie die gesamte Herrschaft Náchod und noch einiges mehr, der Herzogin Katharina Wilhelmine von Biron und Sagan. Auch die schöne und geistreiche Wilhelmine von Sagan wäre heute fast vergessen, wenn sie nicht ab 1820 eine Wäscherin namens Theresia Pankl beschäftigt hätte. Theresia brachte mit Tochter Barbara ein unehelich geborenes Kind mit in den Hofstaat ein. Das Bärbelchen erlebte allerdings prägende Kindheitsjahre im Haus der nur tschechisch sprechenden Großmutter. Als sie 35 Jahre alt war, verarbeitete sie ihre Kindheitserlebnisse und wohl auch die aktuelle Lebenskrise in ihrem bekanntesten Buch „Babička“ („Großmütterchen“). Seit 1842 nannte sie sich Božena und war mit dem ungeliebten, aber patriotischen Finanzbeamten Němec verheiratet. Oft wussste sie nicht einmal, wie sie die Kinder satt bekommen sollte. Božena Němcovás Buch ist Kult in Tschechien und hat erheblich zur nationalen tschechischen Identitätsfindung beigetragen. Ich mag es auch. An schönen Wochenendtagen pilgern die Familien zuhauf nach Ratibořice, bestaunen das Schloss der „Frau Fürstin“ (so wird Katharina Wilhelmine im Roman genannt) und ziehen anschließend in langen Schlangen durch das Großmütterchen-Tal (Babiččino údolí) der Úpa zur Alten Bleiche. Dort hatte das Bärbelchen seine Kindheit verbracht. Viele bleiben aber schon im Biergarten an der Alten Mühle hängen, dort steht auch Otto Gutfreunds „Großmütterchen-Denkmal“ (1922). Dem sieht man überhaupt nicht an, dass sein Schöpfer vor 1920 einer der bedeutendsten Künstler des tschechischen Kubismus war. Wer Glück hat, kann im Schloss eine „Kostümführung“ erleben – mit der erwähnten Audienz bei der „paní kněžna“ – und von der Kammerzofe und der Ziehtochter der Fürstin, der Komtesse Hortensia, ein paar nette Klatschgeschichten erfahren. Herzogin Wilhelmine hatte nämlich eine Liason mit dem Fürsten Metternich, und manche behaupten, die spätere Božena N. sei eine Frucht dieser Beziehung oder gar einer Nacht mit Zar Alexander I. gewesen. Der war 1813 tatsächlich hier. Und im Sommer jenes Jahres handelten dessen Beauftragter Graf von Nesselrode, Wilhelm von Humboldt und eben Metternich auf Ratibořice den Wechsel Österreichs an die Seite der russisch-preußischen Allianz aus. Das besiegelte den Untergang Napoleons, den die Frau Fürstin tief verabscheute. Der Vertrag selbst wurde allerdings auf Schloß Opočno verhandelt. Das machte mehr her.

Ein bisschen Verrat war das aber schon. Franz I. von Österreich führte dann Krieg gegen den eigenen Schwiegersohn.