26. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2023

Theaterberlin 

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Fremder als der Mond“ – Berliner Ensemble / „Onkel Wanja“ – Schlosspark Theater 

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BE: Brecht, das Grau und die Handbremse 

„Mir ist jede Farbe recht. Hauptsache, sie ist grau.“ Ein Brecht-Bonmot, das im Ex-Brecht-Theater am Schiffbauerdamm nur allzu hingebungsvoll beherzigt wurde, als man – gedacht als Knaller zum Saisonauftakt – ein neues Brecht-Programm herausbrachte. So ist denn die Bühne gleich mehrfach grau gerahmt vor grauer Wand, in der sich gelegentlich Gucklöcher öffnen für Auftritte der beiden Akteure des Abends, wenn sie zur Abwechslung einmal nicht an der Rampe Brecht-Lieder singen, Brecht-Lyrik rezitieren, Brecht-Prosa sprechen (aus den Arbeitsjournalen).

Die Idee des Hausherrn und Regisseurs Oliver Reese ist so naheliegend wie zwingend, den weltberühmten Hausgott zu feiern. Das Löbliche dabei: ihn nicht zu vergöttern. Der biografisch stichwortartige Schnelldurchlauf in drei Akten – Jugend und wilde Berliner „Baal“-Zeit, Exil, Nachkriegs-Ostberlin – wird umrankt von passendem Liedgut. Grundgestus der Collage: informativ, verhalten depressiv. Das entspricht der gegenwärtigen Lage („Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.“). Und in etwa der skeptischen Disposition des großen Rauchers und gewieften Dialektikers, auf den man, wie er meinte, „nicht bauen“ könne („Wir waren miteinander nicht befreundet… / Als wir einander in den Armen lagen / War’n wir einander fremder als der Mond.“

„Fremder als der Mond“ ist zugleich das Motto des von Reese wie mit gezogener Handbremse arrangierten Abends. Man ist eben sehr aufs Grau aus, wohl auch, um das von Brecht gehasste „Kulinarische“ zu meiden. Da liegt der geniale Adam Benzwi genau richtig mit seinem – freilich bestechenden – Minimalismus für die Neukompositionen beziehungsweise neu gefassten Klassiker von Eisler, Weill, Dessau für drei Musiker. Also keine Revuetreppe, kein Glitzer (den das Brecht-Repertoire mit seinen Hits immerhin auch hergäbe).

Womit wir beim Mittelpunkt der knappen Zweistunden-Veranstaltung wären, dem Star der Berliner Opern-, Show- und Musical-Szene: der unvergleichlichen Katharine Mehrling. Die kann Heiß und Eis, Hart und Zart, Süß und Bitter – und das Dazwischen. Nur eben diesmal, wegen des Graus, vieles seltsam zurückgenommen. Dennoch: Es gab die Momente, da der Saal die Luft anhielt: „… Und was bekam des Soldaten Weib aus dem weiten Russland? Den Witwenschleier zur Totenfeier…“ Oder „Am Grunde der Moldau wandern die Steine… das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine“.

Die Mehrling als Gast engagiert zu haben, obgleich es im formidablen BE-Ensemble beste Kräfte gibt, ist ein auf spektakuläre Außenwirkung zielender Coup Reeses (wie vor einem Jahr das Engagement Barrie Koskys als glamourös packender Regisseur für die „Dreigroschenoper“).

Wäre jetzt nur nicht das verbissene Grau. Anders gesagt: Dem dramaturgisch durchaus geschickt gebauten, mit Video-Schnipseln hübsch garnierten und mit gefälligen Plattheiten durchsetzten Nummernprogramm fehlt ein kräftiger Schuss raffinierter, durchschlagskräftiger theatralischer Fantasie, worunter ganz besonders Mehrlings Mitspieler Paul Herwig zu leiden hat. Doch allein der Name Mehrling wird’s schon richten, das mit dem Publikumsrenner.

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Schlosspark: Das Rote sticht das Blaue 

„Wohin kommt man mit Ihren Helden? Vom Sofa bis zur Abstellkammer“, schrieb Tolstoi an Tschechow. Dabei passiert den Sofahelden auf so kurzem Wege unendlich viel – obgleich ihr Dasein stockt und festgefahren. Da krachen Herzensexplosionen, Wutexzesse, Egotrips, Zukunftsträume, gellen Einsamkeits- und Verzweiflungsschreie, dräuen gar Vernichtungsfantasien und Todesträume – doch all das zusammen zielt ins Leere. Gigantischer Unglücks-Stillstand voll innerer Erregung. Viel Trinken, Lamentieren, Sinnieren, aber nix tun. So geht das bei Anton Tschechow. „Ich bin geblieben, wie ich war, bloß schlimmer“, ätzt Gutsverwalter Onkel Wanja gegen sich und bringt es auf den Punkt inmitten der mit Sinnsuchenden und Selbstverlorenen bevölkerten „Szenen aus dem Landleben in vier Akten“.

Jetzt, im Volkstheater Schlosspark, das – gut so! – keine Berührungsängste hat vor großer Literatur, inszenierte der international erfahrene österreichische Regisseur Anatol Preissler den weltberühmten Klassiker „Onkel Wanja“. In seiner mit Gegenwartspointen garnierten, ansonsten dicht beim Original bleibenden Neuübersetzung (gemeinsam mit Ehefrau Ekaterina Bezghina) heißt es jedoch im Untertitel: „Ein Leben in vier Augenblicken“.

Das ist neu und klug formuliert und entspricht der geschickt gestrafften Textfassung. Auch Preisslers Bühnenbild passt dazu. Das Anwesen in russischer Provinz: ein Allerweltsraum im IKEA-Look. Die Wände in sattem Blau, die Möblierung knallrot. Wir verstehen: Da ist einerseits das ausweglose Auf-der-Stelle-Treten des Lebens (blau). Anderseits das vergeblich dagegen trotzend Neurotische (rot). Da sind die Tragik der Agonie, der Schmerzen und der Lebensleere und demgegenüber die Komik der Figuren, die hervorbricht bei der verrückten wie hilflosen Anstrengung, womöglich doch irgendwie den Daseinsknast zu knacken.

Wir sehen: Blau und Rot – ohne Zwischentöne. Eben Augenblicke; vor allem rote. Vornehmlich auf die derart gefärbten Momente setzt die Regie: aufs Komödische – bis hin zur Klamotte, Groteske. Keine Sorge, auch das steckt im Stück. Hier freilich wird’s besonders kräftig skizziert. Also weg vom sozial wie psychologisch vielfarbigen Zeichnen der armen Einsamkeitsfiguren. Hin zum Holzschnittartigen; aber flott unterhaltsam, spaßig, mit gelegentlich eingestreuter Bitterkeit. Und natürlich witzig: „Schönes Wetter heute! Genau richtig zum sich Aufhängen.“

Tschechow, der geniale Weltmeister im dramatischen Doppelpack Tragödie-Komödie, der verkraftet vieles, eigentlich alles. Auch überbordend grelles Rot mit bloß einigen Tupfern Dunkelblau.

Das Ensemble der sinnsuchenden und doch selbstverlorenen Unglücksraben hält da wacker mit und sogar gelegentlich inne. – Um den Kern zu nennen: Boris Aljinovic gibt den schüchternen, grämlich in sich gekehrten Onkel W., Mark Weigel den stürmisch idealistischen, sarkastisch blitzenden und resignierenden Arzt Astrow, die heimliche Hauptfigur. Und Dagmar Bernhard als vernachlässigt verheiratete Jelena ist das von beiden Herren unerfüllt begehrte erotische Subjekt. Es stöckelt zickig, aber mit Hüftschwung auf High-Heels und klimpert schließlich verbittert und ratlos auf dem Klavier. Zwischendurch wird russisches Liedgut geträllert. Am Ende findet man sich nach allerlei Irrungen und Wirrungen zerknirscht zusammen beim kollektiven Gesumm eines wehen Popsongs. Der Rausschmeißer ins 21. Jahrhundert. Auf Englisch. Das erstaunte Publikum ist gerührt, dann heftig hingerissen.