26. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2023

Über Vertrauen

von Viola Schubert-Lehnhardt

Der Titel des Bandes „Vertrauen in der Medizin“ lässt zunächst vermuten, dass es ausschließlich um Fragen innerhalb des Gesundheitswesens ginge – dem ist jedoch erfreulicherweise mitnichten so. Vielfach werden tagesaktuelle Beispiele, vor allem zum Krieg in der Ukraine, zur Illustration bestimmter Sachverhalte herangezogen und erläutert: so habe Putin darauf vertraut, dass nach 1990 keine Osterweiterung der Nato stattfinden werde; die deutsche Politik wiederum habe darauf vertraut, dass Putin die europäische Sicherheitsordnung unangetastet lassen werde … Folgerichtig: Wie könne hier nach Beendigung des Krieges Vertrauen wiederhergestellt werden? Wie wird überhaupt Vertrauen „hergestellt“? – sind nur einige der Fragen, die im Buch aus der Perspektive verschiedenster Wissenschaftsgebiete erläutert werden.

Sensibilitäten, Verletzlichkeiten und Vertrauensverständnisse seien stets auch als sozio-historische Konstrukte zu betrachten und somit historisch variabel. Die Vertrauenskultur einer/unserer Gesellschaft sei weiterhin momentan durch Klimawandel, Ressourcenknappheit, Umweltverschmutzung wie auch durch ungünstige Wohnlagen, prekären Status etc. geprägt. Infografiken diverser Medien dokumentieren unisono schwindendes Vertrauen der Bevölkerung in die Parteien bzw. staatliche Institutionen – so z.B. neues deutschland vom 4./5. März 2023: wenig bzw. überhaupt kein Vertrauen in die Bundesregierung hatten im Oktober 2021 40% der Mütter, im November 2022 waren es 50%. Die derzeitigen Debatten um das Kinderbetreuungsgeld, fehlende Medikamente für Kinder oder Schließung gerade von Kinderstationen in Krankenhäusern dürften es weiter sinken lassen.

Damit sind wir wieder beim Thema des Buches. Unterschieden wird in den Beiträgen zwischen Vertrauen in die Institution Gesundheitswesen und dem auf der individuellen Ebene, dem Arzt-Patient-Verhältnis. Letzteres scheine eine Selbstverständlichkeit, schließlich sei mit dem Aufsuchen der Ärztin ein Behandlungsvertrag eingegangen worden und damit ein Vertrauensvorschuss gegeben. Zunehmend unterliege der Arzt jedoch auch ökonomischen Zwängen, so dass Patientinnen dadurch verunsichert werden. Wilhelm Schmid spricht in seinem Beitrag deshalb von einer „signifikanten Konjunktur des Misstrauens, die mit dem Prozess des Fortschritts einhergeht“. Auch er bezieht diese Aussage nicht nur auf den medizinischen Bereich, sondern ebenso auf andere Gebiete unseres Lebens: z.B. würden häufig Produkte auf den Markt gebracht, die noch nicht ausgereift seien, oder alte Artikel würden „madig gemacht“, um zum Kauf von neuen anzuregen. Gleichzeitig fragt er nach dem „Sinn des Misstrauens“ – wäre es wirklich eine bessere Welt, ein besseres Leben, wenn alle Menschen sich und Anderen stets vertrauen könnten? Die Rezensentin lässt die Antwort bzw. die beschriebenen Auswirkungen hier bewußt offen, um der Leserschaft die Spannung zu erhalten.

Fritz Böhle geht in seinem Beitrag bezugnehmend auf N. Luhmann auf historische Veränderungen zur Entstehung von Vertrauen ein. In traditionellen Gesellschaften habe sich Vertrauen auf eine natur- und gottgegebene Welt bezogen, „die weder bewusst durchdacht noch selbst gestaltet oder beherrscht“ würde; mit der Aufklärung sei eine Veränderung hin zu eigener Erfahrung als Basis eingetreten. Heute gäbe es Vertrauen vor allem in das Wissen von Expertinnen (er zitiert dazu A. Giddens). Diese Auseinandersetzung mit den beiden Positionen durch Böhle sollte die Leserschaft ebenfalls selbst prüfen.

Ferner interessant ist der Ansatz, Vertrauen nicht nur aus der Sicht derjenigen zu betrachten, die Vertrauen „schenken“, sondern auch von demjenigen her, denen Vertrauen entgegen gebracht wird sowie den begrenzten Möglichkeiten des Rechts, vertrauensbildende Maßnahmen zu unterstützen bzw. Vertrauen in Institutionen zu schaffen und zu erhalten (siehe den Beitrag von Gunnar Duttge). Christina Schües thematisiert dagegen die moralische Dimension von Vertrauen, sowie den Aspekt, dass die Berechtigung von Vertrauen immer nur durch Dritte bzw. im Nachhinein beurteilt werden könne.

Aufgeräumt wird in vorliegendem Band mit dem Mythos eines angeborenen kindlichen „Urvertrauens“ und statt dessen gezeigt, wie sich dieses Vertrauen in der Eltern-Kind-Beziehung schrittweise entwickelt – und leider teilweise enttäuscht wird (Kindesmissbrauch).

Die Entscheidung der einzelnen Autorinnen, über die gewählte Vorgabe des medizinischen Bereiches hinauszugehen, macht den besonderen Reiz dieses Buches aus.

Giovanni Maio (Hg.):Vertrauen in der Medizin. Annäherungen an ein Grundphänomen menschlicher Existenz, Herder Verlag GmbH, Freiburg im Breisgau 2023, 320 Seiten, 24,00 Euro.