26. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2023

Mea culpa?

von Erhard Crome

Im Blättchen 17/2023 (Waldemar Landsberger) wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der deutsche Inlandsgeheimdienst unter seinem Chef Thomas Haldenwang zur obersten Zensurbehörde in Deutschland ausgebaut wird. Inhaltliche Positionen, die in der Vergangenheit als legitime Äußerungen in einer demokratischen Meinungsvielfalt galten, stehen jetzt auf dem Index. Der wird bisher „gegen rechts“ gerahmt, ist aber nach Belieben auch gegen „links“ verwendbar. Auf der Liste stehen derzeit: die Verantwortung des Westens für die Osterweiterung der NATO und die Einkreisung Russlands seit 1991 sowie die Nicht-Errichtung einer gesamteuropäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands, die Grundposition, dass der Ukrainekrieg „nicht unser Krieg“ ist, die Ablehnung weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine, die Infragestellung der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands, die Frage nach dem Charakter der EU als neoliberaler Globalisierungsinstitution.

Der Spiegel, eigentlich Nachrichten-Magazin, betätigt sich derweil als denunziatorischer Gehilfe der Zensurbehörde. Im Heft 32/2023 versuchte er sich in einer Verlängerung der Index-Liste. Die AfD habe „zuvor positiv besetzte Werte […] abgewertet. ‚Gutmenschen‘ gelten vielen dank der AfD nicht als gute Menschen, sondern als naive Ideologen“.

An dieser Stelle musste ich stutzen. Muss ich jetzt Buße tun, im Sinne des „mea culpa, mea maxima culpa“, oder mit den Worten Martin Luthers: „Ich bekenne, ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken“? Muss ich jetzt „rechts“ gerahmt werden?

Nach meiner Erinnerung habe ich das Wort „Gutmensch“ zum ersten Mal 2001, und zwar im Blättchen 10/2001, in einem ironischen, pejorativen Sinne benutzt. Da ging es um die damals alljährlichen Krawalle in Kreuzberg zum 1. Mai. Ich schrieb, diese „haben mit der Idee des Kampfes um irgendwelche sozialen Ziele ungefähr soviel zu tun, wie der Storch mit dem Kinderkriegen. Eher schon mit der ‚Love-Parade‘ oder den harten Hertha-Fans. Die einen meinen, wenn sie ihren Arsch bewegen, komme Bewegung in diese Gesellschaft, die anderen Saufen sei Sport, die dritten, es sei Kampf gegen das ‚Schweinesystem‘, wenn sie ihrem Nachbarn den gebraucht gekauften VW-Polo abfackeln. Wahrscheinlich hatte der wegen Geldmangels für das Auto ja nicht mal eine Versicherungspolice, die ihm Anspruch auf Ersatz begründet hätte. Da hat ‚das Kapital‘ aber einen gewaltigen Schaden, wenn der sich ein neues zusammensparen muss. Aber halt! Die wirklichen Kämpfer für das Gute in dieser Welt fahren ja sowieso Fahrrad, am liebsten im Dunkeln ohne Licht, links und den Fußgängern über die Füße. Die können ja rechtzeitig wegspringen! Soll doch der Türke seine Scheißkarre woanders hinstellen! Zumindest wenn er weiß, dass hier der deutsche Gutmensch in seiner ‚rrrevolutionären‘ Gestalt zu sich selber kommt. Wenigstens einmal im Jahr, zum Ersten Mai.“

Der Kontext meines Textes ist klar. Der Sinn des Gebrauchs von „Gutmensch“ sollte es ebenfalls sein. Da die AfD im Jahre 2013 gegründet wurde, kann ich 2001 kaum dort abgeschrieben haben.

Nachdem ich für die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Studie zum Thema „Nation“ geschrieben hatte, übernahm der Freitag (8/2002) daraus einen Teil, der zu einer Debatte in der Zeitschrift führte, die Michael Jäger gezielt anfeuerte und am Ende in eine Buchpublikation führte. Ich hatte an verschiedenen Punkten der Debatte die faire Möglichkeit, mich zu den vorherigen Debatten-Beiträgen zu äußern. Mein Einwurf, die Nation unter eine sozialtheoretische Sichtweise zu stellen, „die auf das Objektive zielt, entgegen einer subjektiven Welt des Meinens“, trug in Bezug auf die Ablehner des Nationsbegriffs die Überschrift: „Weltbürgerliches Gutmenschentum“. Das war damals eine rein linke Diskussion in der es um das Verhältnis der Linken (im weiteren Sinne) zur Nation ging. Insofern zeugt es bei den Lohn-Schreibern des Spiegel von heute nur von Unbildung, wenn sie den pejorativen Gebrauch des „Gutmenschen“ schlicht „rechts“ verorten.

Ein zweites, jetzt im Spiegel denunziertes Wort ist „Globalisten“. Die kritische Analyse der neoliberalen Globalisierung war seit Anfang der 2000er Jahre ein zentrales Thema der Bewegung der Sozialforen. Den Stand der Dinge hatte ich in einem Text zum Thema: „Die Bewegung der Sozialforen und die Grenzen einer imperialen Weltordnung“ umrissen, der 2004 erschien. Hinter der „Globalisierung“ – so hieß es – verbirgt sich eine erneute Re-Kolonialisierung der Welt außerhalb der kapitalistischen Zentren. Ich verwies auf das Weltsozialforum von Porto Alegre 2003. Lula war gerade frisch zum Präsidenten Brasiliens gewählt worden und alle befürchteten, dass US-Präsident George W. Bush den angekündigten Überfall auf den Irak befehlen würde. „Niemand bezweifelt, dass Saddam Hussein ein Diktator, ein Mörder ist. Keine Frage, dass es den Irakern ohne ihn besser ginge. Allerdings ginge es der ganzen Welt besser ohne einen gewissen Mr. Bush“, sagte Arundhati Roy am 27. Januar 2003 im gedrängt gefüllten Sportstadion „Gigantinho“ vor 20.000 Menschen. Und sie folgerte: „Die Revolution der Globalisierer wird scheitern, wenn wir uns ihnen verweigern – ihren Ideen, ihrer Version der Geschichte, ihren Kriegen, ihren Waffen, ihrer Logik.“

Auch nach der Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten (2009-2017) war das Wesen der „Globalisierung“ als Re-Kolonialisierung der Welt außerhalb der kapitalistischen Zentren offensichtlich. Er betrieb dieses Geschäft nur geschickter und eloquenter, als sein Vorgänger. Mit der Kandidatur und dann der Wahl von Donald Trump stellte sich die Frage nach der Differenzierung in den herrschenden Kreisen der USA auf neue Weise (dazu mein Text in Das Blättchen 12/2016).

Die Grundlinie der Außenpolitik der USA von George Washington bis zum Ersten Weltkrieg wurde „Isolationismus“ genannt. Das hieß: Konzentration auf eigene Interessen und das Bemühen, sich nicht in fremde Konflikte hineinziehen zu lassen. Der Demokrat Woodrow Wilson (1913-1921) führte das Land in den Ersten Weltkrieg; die Gründung des Völkerbundes ging maßgeblich auf seinen Einfluss zurück. Der US-Senat lehnte die Ratifizierung des Vertrages jedoch ab. Die isolationistische Linie hatte sich nochmals durchgesetzt. Nachdem Präsident Franklin D. Roosevelt (1933-1945) die USA in den Zweiten Weltkrieg geführt hatte und unter seinem maßgeblichen Einfluss die UNO gegründet wurde, begann die lange Phase „internationalistischer“ Politik der USA, gekennzeichnet durch Globalstrategie und militärische Interventionen. Es waren Demokraten, die die USA in Kriege führten: Woodrow Wilson in den Ersten Weltkrieg, Roosevelt in den Zweiten Weltkrieg, Harry S. Truman (1945-1953) in den Korea-Krieg, John F. Kennedy (1961-1963) und Lyndon B. Johnson (1963-1969) in den Vietnam-Krieg. Und es waren „reaktionäre“ Republikaner, die Kriege beendeten: Dwight D. Eisenhower (1953-1961) den Korea-Krieg, Richard Nixon (1969-1974) den Vietnam-Krieg. Insofern war George W. Bush (2001-2009) unter dem Einfluss der neokonservativen Einflüsterer mit den Kriegen gegen Afghanistan und Irak die Ausnahme, während Obama mit den Kriegen in Libyen und Syrien sowie der Druckpolitik gegen Russland dem Muster entsprach.

Henry Kissinger, einer der Vordenker US-amerikanischer Machtpolitik, hatte bereits 1992, nach Ende des Kalten Krieges betont, dass es eine unilaterale Welt nicht geben könne. Die USA seien nach dem Kalten Krieg erstmals in einer Situation, interessengeleitete „Realpolitik“ machen zu müssen. Mit Trump hatte die Idee einer „realistischen Außenpolitik“ wieder Eingang in die außenpolitische Debatte gefunden. Die „westlichen Werte“ sollten in der Welt nicht durch militärische Interventionen, sondern durch die Attraktivität der Länder des Westens verbreitet werden, die auf wirtschaftlicher Leistung beruht. Hier sah Trump 2016 den Nationalstaat als das Grundelement der Entwicklung. Das Volk der USA werde „den falschen Gesängen des Globalismus“ nicht länger folgen.

Die Differenzierung innerhalb der herrschenden Klassen der USA zwischen Globalisten und Isolationalisten hat eine analytische Funktion, die gerade im Wahljahr 2024 wieder höchst bedeutsam ist. Das hat mit parteipolitischen Konstellationen in Deutschland nichts zu tun und kann auch nicht als Vermummung eines klandestinen Antisemitismus verschrien werden. Fazit: Ich habe nichts zu beichten. Und ich lasse mir von Haldenwang und seinen Blockwarten nicht die wissenschaftlichen Begriffe verbieten.