26. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2023

Der Weg nach oben

von Frank-Rainer Schurich

„Ein großer Mathematiker hat einmal gesagt, als Gott Himmel und Erde schuf und Licht und Dunkel und Wasser und Erde und Oben und Unten trennte, da habe er sich als Mathematiker erwiesen, denn diese Taten setzten die Kenntnis der binären Gegensätze voraus.“ Das schrieb dänische Autor Peter Høeg in seiner Erzählung „Reise in ein dunkles Herz“.

Binäre Gegensätze haben im Leben der Menschen immer eine entscheidende Rolle gespielt, wobei hier nur auf den letzten Antagonismus eingegangen werden soll, denn die Erfahrung sagt, dass alle nach oben wollen und keiner unten sein will.

Mit dem Titel „Der Weg nach oben“ gibt es eine Fülle von Publikationen, allesamt aus dem Gebiet der Hagiographie, die als Erforschung und Beschreibung von Heiligenleben definiert wird. Zum Beispiel die von Roland Eitel aus dem Jahr 1988 über Jürgen Klinsmann, den Fußballspieler und Trainer, der als Legende stilisiert wird. Mit dem Untertitel „Gerhard Schröder. Eine politische Biographie“ schrieben Volker Herres und Klaus Waller zehn Jahre später ihr Buch. „Es ist ein Leben auf der Überholspur, in dem die Überzeugungen kaum länger halten als die Ehen“, heißt es in einer Rezension. Und das neueste belehrende Werk dieser Art kam 2018 von Donald J. Trump auf den Markt. Untertitel: „Die besten Ratschläge, die ich jemals bekommen habe“. Nun ja.

Verlassen wir diese unerquicklichen Fremd- und Selbstdarstellungen. Das einzige literarische Werk, das den Titel „Der Weg nach oben“ wirklich verdient, stammt vom Schriftsteller John Brain (1922-1986) aus dem Jahr 1957. Berühmtheit erlangte ebenso der gleichnamige britische Film zum Buch (1959). Joe Lampton, ein kleiner Finanzbeamter im englischen Norden, will nach oben und erkennt sehr schnell, dass durch Fleiß, Wissen, Bescheidenheit und Kompetenz ein Aufstieg nicht möglich ist. So macht er sich, letztlich erfolgreich, an Susan Brown heran, die Tochter eines englischen Oligarchen. Neu für diese Zeit: In Buch und Film wird Sexualität nicht als Sünde, sondern als Lust realistisch dargestellt. Simone Signoret wurde 1960 übrigens mit dem Oscar für die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet.

„Der Mensch erreicht größeren Wuchs dadurch, dass er nach oben strebt“, schrieb 1982 der sowjetisch-ukrainische Schriftsteller Wolodymyr Drosd (1939-2003) in seiner Satire „Jossyps Himmelfahrt“. Am generellen Charakter seines Protagonisten Jossyp Slastjon lässt der Autor jedoch keine Zweifel. Jeder neue Sturz von den Höhen der Macht wird für ihn nicht zur Tragödie, sondern zum Ausgangspunkt einer neuen Karriere.

Manche aktuelle Leiterpersönlichkeiten und Machtmenschen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft denken allerdings nicht so. Sie tun alles, um ihre Posten zu halten und zu festigen – um nicht nach unten zum gemeinen Volk zu stürzen. Dahinter steckt oft die krankhafte Überzeugung, dass man sich nur oben halten kann, wenn man die anderen Leute gängelt. Da spielen Minderwertigkeitsgefühle mit, die in der Psychiatrie und Psychologie fachwissenschaftlich mit „Inferioritätskomplex“ umschrieben werden. Das klingt dann gar nicht so schlimm, wie es eigentlich ist.

Über die Dialektik von oben und unten ist schon viel geschrieben worden. Wer glaubt, schon ganz oben zu sein, der ist schon auf dem Weg nach unten, wissen nicht nur Künstler zu berichten. „Sei nett zu den Leuten, die Du auf dem Weg nach oben triffst. Du wirst sie auf dem Weg nach unten wieder treffen“, schrieb einst der US-amerikanische Dramatiker Wilson Mizner, der in Florida mit seinem Bruder in einen Immobilienskandal und in Betrügereien verwickelt war. Er wusste also nur zu gut, wovon er philosophierte.

Eine sehr zuverlässige, allgegenwärtige und ganz selbstverständliche Möglichkeit, wirkliche Höhen zu erreichen, ist die Benutzung von Treppen. Der Erfinder der Treppen ist leider nicht überliefert, aber ihr Einsatz erfolgte schon 10.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Nachgewiesen in dem prähistorischen steinzeitlichen Fundort Göbekli Tepe (Anatolien, Türkei) – nicht nur zur Überwindung von Höhenunterschieden, sondern auch als Verbindung zwischen Erde und Himmel mit hoher Symbolkraft und als Machtdemonstration. – Viele wissen nicht, dass der Treppenbau einmal eine große Kunst war, wie das „Handbuch der Treppenbaukunst“ von G. H. Nix beweist (Leipzig 1887-1890).

Vom alltäglich gebrauchten Wort Treppe existieren einige sprichwörtliche Redewendungen. Man kann einerseits die Treppe hinauffallen, wenn man völlig unerwartet vor allem nach Amtsenthebung oder Degradierung wieder nach oben gelangt ist. Die Treppe heruntergefallen sein sagt man dagegen, wenn jemand beim Frisör war, vor allen Dingen, wenn die Haare in unschönen Abstufungen geschnitten sind. Dann gibt es noch die Redewendung einen die Treppenstufen zählen lassen, die verwendet wird, wenn ein böser Mensch einen anderen die Treppe hinabstößt.

Womit wir beim Treppensturz sind. Fast 3.500 Unfälle dieser Art sollen im Jahr tödlich verlaufen, eine genaue Statistik gibt es aber nicht. Zum Vergleich: 2022 gab es in Deutschland 2.872 Unfalltote im Straßenverkehr. Auch Prominenten kann das passieren, wie dem Hamburger Reeder Bertram Rickmers und dem Schauspieler Siegfried Rauch, bekannt durch seine Rollen als Traumschiff-Kapitän und als Dr. Roman Melchinger in der ZDF-Serie „Der Bergdoktor“.

Einige Berufsgenossenschaften schreiben deshalb vor, dass die Handläufe zu benutzen sind, um das Unfallrisiko auf Treppen erheblich zu vermindern. Wer als Arbeitnehmer eines Mitgliedsunternehmens das nicht macht, kann nach zwei Abmahnungen gekündigt werden. Erhebliche Verletzungen bei Treppenstürzen und enorme Kosten bei der ärztlichen Versorgung sind nämlich für die Berufsgenossenschaften ein gravierender Faktor.

Hinter manchen Treppenstürzen verstecken sich Verbrechen. Denn in Tötungsabsicht jemanden die Treppe hinunterzustoßen, verursacht fast keine Spuren, und Zeugen sind oft nicht vorhanden. Deshalb hat der Mord durch Treppensturz eine außerordentliche Dunkelziffer.

Bleibt noch eine Frage: Was ist ein Treppenwitz? Ein Witz, der auf der Treppe erzählt wird? Mitnichten. Die Bezeichnung geht auf den französischen Erzähler und Philosophen Denis Diderot zurück, der den Ausspruch „L’esprit de l’escalier“ prägte. Diese Formulierung ist 1773 in seinem Essay „Das Paradox über den Schauspieler“ (Paradoxe sur le comédien) zu finden und soll ursprünglich eine geistreiche Wendung ausdrücken, die jemandem erst auf der Treppe einfällt, wenn er seinen Gesprächspartner bereits verlassen hat. Die deutsche Übersetzung „Treppenwitz“ ist seit 1827 belegbar.

„Du gehst mir nach“, sagte jemand im fast autobiografischen Roman „Tagebuch eines Diebes“ von Jean Genet. „Aber vorsichtig, die Treppe ist ein Klatschmaul.“ Kaum hatte der Ich-Erzähler die Hand seines Geliebten berührt, verwandelte sich die Treppe, die zum Herrn der Welt wurde, heißt es weiter. Also, unter verschiedenen Aspekten immer Vorsicht bei der Treppenbenutzung!

Wider Erwarten gibt es auch ein Buch mit dem Titel „Der Weg nach unten“ (1961) – womit wir auf Umwegen wieder bei der Kriminalistik sind. Verfasser dieser Autobiografie mit dem Untertitel „Aufzeichnungen aus einer großen Zeit“ ist der Schriftsteller Franz Jung (1888-1963). Als sein Freund Otto Gross auf Betreiben seines Vaters Hans Gross, des Begründers der modernen Kriminalwissenschaften, in die Psychiatrie eingewiesen wurde, setzte sich Jung erfolgreich für Gross‘ Freilassung ein.

„Wir sind immer oben, und wenn wir unten sind, ist unten oben“, singt gerade jemand im Radio.