26. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2023

Ungarn nach dem Huxit

von János Széky, Budapest

Formell ist Ungarn eine Republik. Jedoch kann der erste Bürger Viktor Orbán, der rein zufällig auch der reichste Bürger ist, verfassungsrechtlich nicht seines Amtes enthoben werden. Er kann vielmehr alles tun oder seine Vertrauensleute zu allem veranlassen, was ihm seine Macht sichert.

Der größte Feind für die Konzentration der Macht in einer Hand ist es, wenn sie in mehreren Händen liegt. Das interpretiert Viktor Orbán so, dass die Europäische Union die nationale Souveränität Ungarns einschränkt.

Dies ist eine alte Leier, aber es scheint, dass hochrangige Regierungsbeamte und Propagandisten in Ungarn – die beiden Berufe decken sich heutzutage weitgehend – aktuell angehalten sind, permanent mit Hass und Verachtung über die Europäische Union herzuziehen. So verkündete Kabinettsminister Gergely Gulyás unlängst, dass „Ungarn der Union einen Gefallen tun wird“, wenn es die Ratspräsidentschaft ab 1. Juli 2024 innehat, und die EU kann dankbar sein, dass eine Regierung mit solch „seriöser Erfahrung“ bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen.

Natürlich ist eine solch vollmundige Rede nach innen gerichtet. Wenn wir Glück haben, findet so etwas weder in Brüssel noch in den anderen Hauptstädten Gehör. Die Botschaft jedoch ist klar: Die Regierung lässt ihre Anhänger wissen, dass ihr die EU-Mitgliedschaft so wichtig ist, wie ein Kropf am Hals.

Immer häufiger hört man die Meinung, „Orbán will das Land aus der Union führen“.

Einen spektakulären jähen Bruch halte ich für kein realistisches Szenario. Zum Teil, weil Orbáns allmählich anhaltende Expansion und Aufreiben seiner Feinde nicht einen plötzlichen Widerstand hervorrufen können, und weil Ungarn dem Kreml oder den Chinesen von außerhalb der EU nicht wirksam genug nutzen könnte. Und auch, weil es billiger ist, bei der Rückzahlung von Krediten der eigenen politischen Klientel mit dem Geld europäischer Steuerzahler zu günstigen Konditionen zu verhelfen.

Der Huxit könnte so ablaufen, dass man rechtlich zwar immer noch Mitglied der Union ist, praktisch jedoch immer weniger: Ungarn tritt zwar nicht aus, entschlüpft aber der EU allmählich. Das Land bekommt kein Geld und verliert das Stimmrecht.

Die ungarische Regierung ist an den gemeinsamen politischen, moralischen oder kulturellen Werten der EU nicht interessiert. Für sie zählen nur die Milliarden aus Brüssel, und wenn es kein Geld gibt, dann hat Ungarn auch keinen Grund mehr, in der EU zu bleiben. Was würde passieren, wenn kein Geld von der EU käme, Ungarn aber in der Union bliebe ohne Rechte und Pflichten? Wie würde das Land dann aussehen?

Diese Frage kann vielleicht ein bekanntes Satzfragment des englischen Philosophen Thomas Hobbes während des Bürgerkriegs in den 1640er Jahren beantworten. In seinem Buch „Leviathan“ argumentierte er nämlich, dass das Leben ohne öffentliche Autorität, die alle unter Kontrolle hält, „solitary, poor, nasty, brutish and short“ also einsam, arm, böse, brutal und kurz wäre. Alle Adjektive träfen auf Ungarn zu, wenn es nicht mehr zur EU gehören würde.

Im Einzelnen:

Einsam – Ungarn würden nicht nur von jeglicher Zusammenarbeit ausgeschlossen, das Verachten und die Lächerlichkeit, denen unser Land sich bereits jetzt schon ausgesetzt, würden offiziell werden.

Arm – Die wirtschaftliche Entwicklung resultiert aus der wirtschaftlichen Freiheit und Innovation. Die Orbán-Regierung setzt aber alle Mittel dagegen ein. So ist die Mehrheit der ungarischen Bevölkerung zu dauerhafter Armut oder zum Verlassen des Landes verurteilt (solange Letzteres überhaupt noch möglich ist).

Hässlich – Gibt es keine Bremse durch die EU, so gibt es noch weniger Hindernisse, das Land in eine moralische Jauchegrube zu verwandeln. Der Anspruch auf Moral wird ganz einfach verloren gehen.

Brutal – Das ist der Krieg aller gegen alle, mit dem Unterschied, dass in Ungarn bereits vorher entschieden wird, wer die Gewinner und wer die Verlierer sind. Je näher man sich bei der Spitze der politischen Macht aufhält, desto sicherer ist einem der Sieg.

Kurz – Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in Ungarn bereits deutlich unter dem Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten. Nach dem Huxit ist mit einem Aufholprozess im ohnehin schon maroden Gesundheitswesen nicht zu rechnen.

János Széky, ungarischer Schriftsteller, Publizist, Übersetzer, Leiter des Ressorts Außenpolitik bei der Wochenzeitung „Élet és Irodalom“ (Leben und Literatur) in Budapest.