26. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2023

Eine jüdische Jahrhundert-Chronik

von Mario Keßler

Autobiographische Schriften von Juden in der DDR gibt es inzwischen in größerer Zahl; dieses Buch sticht jedoch heraus, denn sein 1944 im englischen Leicester geborener Autor Wolfgang Herzberg druckt zu Beginn die Selbstzeugnisse seiner Eltern ab. Dem folgt ein längerer autobiographischer Text. Das Buch wird abgerundet durch eine dokumentierte Reflexion zum Platz jüdischer Persönlichkeiten, die sich mit dem sozialistischen Experiment in der DDR verbanden, ohne sich notwendigerweise allen Zumutungen zu beugen. Hier ergänzt und korrigiert Herzberg auch Feststellungen des Verfassers dieser Zeilen, der jüdischen Intellektuellen in der DDR-Politik mitunter einen zu marginalisierten Platz zuwies.

Wolfgang Herzbergs Mutter Ursula, geboren 1921 in Berlin in einer Angestellten-Familie, besuchte die Volks- und Mittelschule und konnte noch bis Ende 1938 als Kontoristin in Berlin arbeiten. 1939 gelangte sie mit einem lebensrettenden Transport jüdischer Kinder nach England. Ihre Mutter fiel der Vernichtung anheim (der Vater war bereits verstorben). In Leicester schloss sie sich der Freien Deutschen Jugend an, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte. 1947 kehrte die junge Familie nach Berlin zurück. Nach einem Jurastudium arbeitete sie bis 1977 als Staatsanwältin in Berlin, danach war sie bis 1982 Dolmetscherin und Übersetzerin beim Weltfriedensrat in Helsinki. Sie starb 2008.

Auch Wolfgangs Vater Hans Herzberg, 1921 als jüngstes von fünf Kindern in Hannover geboren, gelangte nach kurzer landwirtschaftlicher Ausbildung mit einem Kindertransport 1939 nach England und fand dort Arbeit als Gärtnergehilfe bei Lionel Rothschild. 1940 wurde er als „feindlicher Ausländer” in Liverpool interniert und nach Kanada in ein Camp überführt. 1944 trat er in die britische Armee ein und war an der „Reeducation” deutscher Kriegsgefangener beteiligt. Nach seiner Rückkehr war er in der DDR in leitender Stelle journalistisch tätig: beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) und bei Radio Berlin International (RBI). Er starb 2015.

Wolfgang Herzberg wuchs mit zwei Geschwistern in Berlin auf, eines ist der später sehr bekannte Rockmusiker André. Nach dem Studium der Kulturwissenschaft war er von 1974 bis 1979 Redaktions- und Regieassistent im DEFA-Dokumentarfilm und beim Fernsehen der DDR, bevor er ab 1980 freiberuflicher Schriftsteller und Texter für „Pankow“, die Band seines Bruders, wurde. Unmittelbar nach dem gesellschaftlichen Umbruch wurde er zudem durch das gemeinsam mit Reinhold Andert verfasste Buch „Der Sturz: Honecker im Kreuzverhör“ bekannt, das in kritischer wie fairer Weise den Lebens- und Denkwegen des früheren Staats- und Parteichefs wie seiner Frau Margot Rechnung zu tragen suchte. Ohne die Diktatur und das Diktatorenpaar reinzuwaschen, zeigte das Interview-Buch auch, wie eine in sich verkapselte Führung bei der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft tragisch scheiterte.

Die Honeckers wie auch Wolfgang Herzbergs Eltern aber waren nach 1945 ehrlichen Herzens angetreten, eine antifaschistisch-sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Auch Ursula und Hans Herzberg mussten sich am Ende ihres Lebens fragen, ob alles umsonst, ja, ob die Entscheidung zur Rückkehr nach Deutschland richtig gewesen war. Das Scheitern ihrer privaten Lebensgemeinschaft durchzog zudem den autobiographischen Text von Ursula Herzberg. Sie fand jedoch früher zur kritischen und selbstkritischen Haltung als ihr (ehemaliger) Mann, in dessen Bewusstsein erst allmählich der Gedanke Platz fand, dass seine Mitwirkung am Kollaborationssender Radio Vltava, der vom DDR-Territorium aus der Okkupation der Tschechoslowakei 1968 publizistisch Beihilfe leistete, der Tiefpunkt seines beruflichen Wirkens war.

Wolfgang Herzberg erhielt keine bewusst jüdische Erziehung, doch machten die Eltern den Zehnjährigen mit der Familiengeschichte vertraut. Seitdem befasste er sich zunehmend stärker mit jüdischer Geschichte und Kultur, führte schließlich biografische Interviews mit jüdischen Zeitzeugen, aus denen 1990 unter andrem das Buch „Überleben heißt Erinnern“ entstand. Doch auch im Glühlampenwerk Treptow, in dem er zeitweilig arbeitete, gewann er die Arbeiter dazu, ihm ihre Lebensgeschichte und ihre Wünsche anzuvertrauen. Resultat dieses Bemühens war schon 1985 das Buch „So war es“, das Arbeiterbilder vermittelte, die mit der geschönten offiziellen Propaganda nichts zu tun hatten. Auch dies war in der DDR möglich.

Interessanterweise spielte Herzbergs jüdische Herkunft für seine Sozialbeziehungen in der DDR, anders als heute, kaum eine Rolle. Sein Freundeskreis, darunter Thomas Kuczynski, bestand zwar zumeist, doch keineswegs ausschließlich aus Menschen mit einem ähnlichen Familienhintergrund. Früh aber wurde ihm bewusst, dass die antifaschistische Erziehung im Bildungswesen, so wichtig und prägend sie war, auf halbem Wege steckenblieb und in eine parteikommunistische Heldenerzählung mündete. Die Widersprüche auch in der Haltung der Arbeiterbewegung zum Antisemitismus wurden ausgespart, Kenntnisse zur Geschichte Israels und des Zionismus nur fragmentarisch und einseitig vermittelt. Doch boten Hochschullehrer wie Wolfgang Heise und Marie Simon, beide Überlebende des Holocaust, mehr, als die offiziellen Erziehungsziele verlangten und tolerierten.

Dennoch fühlte sich Wolfgang Herzberg in der DDR, ungeachtet aller Widersprüche zwischen sozialistischen Idealen und trister Wirklichkeit, heimischer als in der heutigen Bundesrepublik. Aufgrund seiner sozialistischen Grundhaltung empfand er, der nie der SED beitrat, sich in der DDR eher am Platze als in der kapitalistischen Gesellschaft, in der zudem die Existenz als Autor viel prekärer war. Durch diese berechtigte Feststellung kommt nach Ansicht des Rezensenten die Würdigung gewonnener Freiheiten etwas zu kurz. Auch kann er aus eigener Erfahrung Herzbergs durchweg negatives Urteil über dessen Zeit als Stipendiat am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung nicht teilen. Hier, wie in anderen Bereichen der Forschung und Lehre, gab es Menschen, die sich dem heute subtileren Konformitätsdruck verweigerten.

Sehr einverstanden ist der Rezensent aber mit dem das ganze Buch durchziehende Anliegen des Autors: Herzberg plädiert für eine revolutionäre Realpolitik, die den kapitalistischen Charakter der Gesellschaft mit demokratischen Mitteln verändern und die Weichen in Richtung eines demokratischen Sozialismus stellen soll. Er knüpft damit an sein 2017 publiziertes und leider zu wenig beachtetes „Manifest der Teilhabe“ an. Die von ihm geforderte und beschworene sozial-ökologische Zeitenwende in Bündnissen von Rot, Grün und Rot ist jedoch auch angesichts der Flucht ehemaliger Sozialisten in die Wirrnisse der Identitätspolitik ferner denn je. Sein eindringliches Plädoyer für eine „grundlegende Neuausrichtung der Erinnerungskultur“, für die Überwindung antikommunistischer Vorurteile und die Sicherung des antifaschistischen Erbes (nicht nur) von Juden in der DDR bleibt ein aktuelles Erfordernis.

Wolfgang Herzberg betont, „dass Deutsche nicht nur direkte und indirekte Täter der NS-Herrschaft wurden, sondern zugleich auch Opfer des Hitlerismus.“ Dies betraf Millionen gefallener und verstümmelter Soldaten ebenso wie Zivilisten. Keinesfalls aber dürfen diese Verluste mit denen der Juden wie der aktiven Antifaschisten „verrechnet“ werden. Das Buch ist ein ungemein wichtiger Beitrag in der Auseinandersetzung mit rechten Geschichtsmythen. Es vermittelt überdies tiefe Einblicke in den privaten Menschen Wolfgang Herzberg, seine Ehen wie seine leiblichen und adoptierten Kinder. Das Buch ist das eindrucksvolle Zeugnis einer Selbstbehauptung in einem Jahrhundert, in dem Juden zu Opfern eines mörderischen Rassismus wurden und doch immer wieder gegen diesen aufbegehrten. Dieses Aufbegehren vermittelt, wie das Buch zeigt, ungeachtet des Scheiterns sozialistischer Modelle eine geradezu trotzige Hoffnung – nicht nur für Juden.

Wolfgang Herzberg: Jüdisch & Links. Erinnerungen 1921–2021. Zum Kulturerbe der DDR, Berlin: Vergangenheits-Verlag, Berlin 2022, 499 Seiten, 28,00 Euro.

Wolfgang Herzberg: Manifest der Teilhabe – programmatische Grundbausteine zivilgesellschaftlicher Bewegungen und demokratische Steuerungsmittel rot-grün-roter Zukunftsbündnisse für eine sozial-ökologische Zeitenwende. Verlag am Park, Berlin 2017, 135 Seiten, 12,99 Euro.