Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 28. April 2008, Heft 9

Casablanca, Thüringen

von Henryk Goldberg

Er hat ihr wohin auch immer geschaut, und wie es war zwischen Rick und Elsa auf dem Airport von Casablanca, als sie in den Nebel flog, das weiß jeder. Doch weil der Autor ein Thüringer ist, erzählt er hier jetzt eine Geschichte, die auf dem Airport Erfurt beinahe begann, wie jene in Casablanca endete.

Es sprach nämlich ein junger Mann, die zehnte Klasse gerade bestanden, im August des Jahres 1966 zu einer älteren Dame so: So long. Er hat, wie es im Liede, das es damals noch nicht gab, heißt, an ihr vorbeigesehn, doch war ihm nicht kalt dabei, sondern heiß: vor Spannung, vor Lust, vor Abenteuer.

Es sollte nämlich via Berlin nach Sofia gehen und dann, heidi!, in den Westen. In den Westen! Deshalb hatte der Junge, der Casablanca nicht kannte, aber fühlte, beim Abschied von seiner Mutter wohl ein wenig geschaut und gekitscht wie Rick, im Rahmen seiner Möglichkeiten natürlich. Er hatte ein Äußerstes getan und sämtliche Karl-May-Bücher verkauft, manchmal muß ein Mann bis an die Grenze gehen.

Die war in diesem Falle der Flughafen Sofia, dort mußten der Junge und sein Vater durch die Kontrolle kommen. Beide besaßen Pässe der Volksrepublik Polen, die indessen einen Nachteil aufwiesen: Es fehlte die gestempelte Zustimmung der Volksrepublik zum Flug nach Paris. Nun war der Vater des Jungen ein cleverer Mann. Und jemand hatte ihm gesagt, wenn man ein Einreisevisum der Franzosen hätte, das man ja nur mit korrekten Papieren bekäme, dann würden die Bulgaren nicht so sehr auf den Ausreisestempel achten. Also betörte er den französischen Konsularbeamten mit der tatsächlich traurigen Geschichte seines Lebens, und wir bekamen die Stempel. Beim Testlauf am Flughafen unterlief dem cleveren Mann ein entscheidender Fehler. Als er nämlich einen Grenzbeamten scheinheilig fragte, ob diese Papiere in Ordnung seien und ihm die Tasche mit den Pässen reichte, fand sich darin auch der Personalausweis des Jungen für Bürger der Deutschen Demokratischen Republik.

Nun, sagte der Beamte, für diesen Bürger bedürfe es eines besonderen Stempels. Damit waren wir erfaßt und trauten uns nicht mehr. Jedenfalls traf der Vater diese Entscheidung, was einerseits vernünftig war und andererseits bedauerlich, sonst hätte ich eine gescheiterte Republikflucht zu erzählen. So kam ich nicht in den Knast, nur in das Druckkombinat »Fortschritt«, dort konnte man ausbrechen.

Wir fliegen also nicht nach Paris, sondern nach Erfurt, auch eine schöne Stadt. Nur daß der Vater, der nur diesen Paß besaß, den er in Schönefeld hätte vorlegen müssen, einen dicken französischen Stempel darin hatte, das versprach Verwicklungen der allerkompliziertesten Art. Doch war, wie gesagt, der Mann ziemlich clever. Auch war er ziemlich krank, er hatte in Auschwitz eine Nummer auf den Arm bekommen und in Buchenwald ein Bein gelassen. So humpelte er gelassen in die Interflug-Maschine und erlitt eine Herzattacke. Der Pilot informierte Schönefeld, unmittelbar nach der Landung stürmte der Notarzt an Bord, Sankra mit Notsignal – und ab. Keine Uniform, Ehrenwort, verlangte von diesem armen, kranken Mann mit seinem schlimmen Schicksal, ein Papier zu sehen. Die Pässe haben wir später verbrannt.

Noch später war ich Redakteur der Jungen Welt. Auch dort gab es eine Kolumne, doch dort habe ich diese Geschichte nie erzählt. Warum? Es ist der gleiche Grund, aus dem aktive Rad-Profis niemals ihre Doping-Geschichten erzählen werden.