26. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2023

Wegbereiter Wieland

von Manfred Orlick

Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) gehörte – neben Gotthold Ephraim Lessing – zu den großen Gestalten der deutschen Aufklärungsbewegung. Darüber hinaus war er der Älteste des berühmten Weimarer Viergestirns Schiller-Goethe-Herder-Wieland. Als 1794 seine „Sämtlichen Werke“ zu erscheinen begannen, galt der Sechzigjährige als der berühmteste deutsche Schriftsteller; in fast ganz Europa wurde sein Name mit Bewunderung genannt. Im 19. Jahrhundert verblasste sein Nachruhm jedoch; woran sich bis heute nicht viel geändert hat.

Der Publizist und Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma geht in seiner Wieland-Biographie den Gründen für diese Vernachlässigung nach und versucht, ihn aus den langen Schatten, in den ihn Goethe und Schiller gestellt hatten, zu befreien und gleichzeitig Versäumtes aus den letzten Jahrzehnten nachzuholen – eingedenk des Wieland-Zitates: „Nach meinem Tode wird’s endlich herauskommen, was ich war, und mir wird mit vollem gerütteltem und geschütteltem Maas Gerechtigkeit wiederfahren.“

In zwanzig umfangreichen Kapiteln zeichnet Reemtsma Wielands Leben nach – von Kindheit und Jugend als Pfarrerssohn in Biberach, dem Studium in Erfurt und Tübingen, anschließend acht Jahre in Zürich und Bern, wo er sein Brot als Hauslehrer verdiente und in bürgerlichen Kreisen verkehrte. Danach wieder in Biberach als Kanzleiverwalter. Im Alter von 35 Jahren war Wieland erster Professor für Philosophie an der Universität Erfurt, von wo er als Prinzenerzieher nach Weimar gerufen wurde, um den künftigen Herzog Carl August auf seine Regierung vorzubereiten: In der Thüringer Residenzstadt lebte Wieland, abgesehen von wenigen, aber äußerst glücklichen Jahren im nahen Oßmannstedt, bis zu seinem Tode. Im Grunde ein unspektakuläres Leben, vor allem ohne Italienreise oder Kavalierstour nach Paris.

Neben der akribischen Beschreibung der Lebensstationen zeigt Reemtsma Wieland als Modernisierer der deutschen Sprache, der den barocken Pomp hinter sich ließ und neue literarische Formen und natürliche Erzählweisen entwickelte. Gemeinsam mit Klopstock führte er damit die deutsche Literatur aus ihrer provinziellen Enge heraus. Er bereitete den Boden dafür, was wir heute „Weimarer Klassik“ nennen. So sind einzelne Kapitel allein dem literarischen Werk Wielands gewidmet, seinen Romanen, Versromanen und -erzählungen. Mit der zweibändigen „Geschichte des Agathon“ legte Wieland 1766/67 den ersten deutschen Bildungsroman vor. In seinen politischen und philosophischen Schriften setzte er sich mit den Franzosen Montaigne, Diderot und Voltaire oder den Engländern Hobbes, Locke und Hume auseinander. Mit dem „Teutschen Merkur“ brachte er außerdem eine Monatsschrift heraus, die bald zum wichtigsten intellektuellen Organ des deutschen Sprachraums wurde. Auch Wielands Übersetzerleistungen werden gewürdigt. Neben der Übersetzung von poetischen und prosaischen Texten griechischer und lateinischer Autoren lösten vor allem seine Shakespeare-Übersetzungen eine erste Shakespeare-Faszination in Deutschland aus. Bei einem Vergleich dieser freien Prosa-Übersetzungen mit den versförmigen Übersetzungen von Schlegel/Tieck kommt Reemtsma zu dem Urteil, dass Wielands Fassung dem Original näher und vor allem besser sprechbar sei.

Selbst Napoleon würdigte Wieland 1808 als Voltaire Deutschlands. Eine neue Dichtergeneration um die jungen Romantiker-Gebrüder Schlegel brachte jedoch die „Institution Wieland“ zum Einsturz. Danach wurde es merkwürdig still um ihn, während seine Zeitgenossen wie Lessing, Herder, Goethe und Schiller immer noch in den Literaturkanon gehörten. Später zählten Friedrich Nietzsche oder Arno Schmidt zu Wielands „Verteidigern“.

Die knapp 700 Seiten umfassende Biographie, die auch die gesellschaftlichen Hintergründe und das kulturelle Leben der damaligen Zeit beleuchtet, ist das Ergebnis der jahrzehntelangen Auseinandersetzung Reemtsmas mit Wieland – ein Abenteuer, auf das sich die Leser einlassen sollten. Im Klappentext der Neuerscheinung wird darauf hingewiesen, dass dies die erste Wieland-Biografie seit siebzig Jahren ist. 2007 erschien indes „Christoph Martin Wieland: Aufklärer und Poet“ des Germanisten Michael Zaremba.

Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland – Die Erfindung der modernen deutschen Literatur – Eine Biographie, Verlag C.H. Beck, München 2023, 704 Seiten, 38,00 Euro.