26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

Graf Bernadotte und die „Weißen Busse“

von Detlef Jena

„Podcast“ ist gerade das mediale Hochamt in Deutschland. Der Marktwert wird nur noch vom Superlativ „Überall wo es Podcast gibt“ übertroffen. Das ist jetzt die Fanfare eines unseligen Zeitgeistes. Und wenn der sich gar mit simplifizierenden Titeln wie „So fühlt sich Krieg an“ schmückt, darf der Leser erschreckt an Brechts „Ballade von den Seeräubern“ denken: „Sie würgen Gurgeln so gelassen wie man ein Tau ins Mastwerk schlingt …“ Doch die rasten bald darauf in einem ohrenbetäubenden Sturm zur Hölle, weil selbst das Meer ihrer überdrüssig wurde. Da half auch kein betender Gesang: „O Himmel, strahlender Azur!“ Nun, ganz so dramatisch darf man nicht denken. Schließlich gelingt es auch solchen Elitejournalisten wie den Sportreportern ganz selbstverständlich, Tore produzierende Kicker mit der Frage, wie sich das anfühlt, ins geistige Boxhorn zu jagen. Dabei sind die doch lediglich ihrem bezahlten Geschäftsauftrag gefolgt.

Doch die ernste Moral bleibt: Persönlich erlebtes Kriegsleid bedarf keiner kommerzialisierten Erklärungen oder Kommentare, es vergeht bei den Überlebenden nie und ist nur zu ertragen, wenn es der gründlichen Suche nach wahren und belastbaren Ursachen, Schuldigen und Wirkungen – wenn es dem Frieden dient.

Ein Bild aus Kindertagen ist tief im Bewusstsein verankert: Es war im Frühjahr 1945 in einer kleinen Stadt in der Havelniederung.  Die Kinder warten am Fenster auf den Vater: „Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg…“ Die Truppen der Alliierten waren noch fern.

Vor den Fenstern fahren unerwartet Autobusse und Lastwagen vorbei. Nicht feldgrau und ohne Soldaten.  Alle Wagen, weiß gestrichen, in einer schier endlosen Kolonne, die Fenster geschlossen. Kein Gesicht ist zu erkennen. Stumm ziehen sie vorbei an den Fenstern hinter denen fragende Kindergesichter verharren. Nur ein Merkmal bleibt haften: Die Autos zieren Rote Kreuze! Die Mutter kennt keine Antwort. Das Erlebnis ist eine Episode und wird wieder vergessen, im Endkampf mit Granateneinschlägen im eigenen Haus. Die Brücken werden gesprengt. Frauen und Kinder fliehen in den schützenden Wald. Kehren zurück und verstecken sich vor der Roten Armee. Der Krieg ist vorbei, der eigene Großvater wird nach Sachsenhausen gebracht… es ist eine Zeitenwende.

Erst nach Jahren dringt die Wahrheit über die Geister-Kolonne weißer Kraftfahrzeuge kurz vor dem Finale des Zweiten Weltkriegs auch zu den heranwachsenden Kindern.

Am Anfang stand ein Name: Graf Bernadotte, ein Neffe des schwedischen Königs. Am 19. Februar 1945 traf er sich in Hohenlychen (Uckermark) mit Heinrich Himmler. Der Reichsführer SS sondierte Möglichkeiten zu einem Separatfrieden mit den westlichen Alliierten und stimmte Bernadottes Vorschlag zu, die skandinavischen politischen Gefangenen des „Dritten Reichs“ im KZ-Lager Neuengamme bei Hamburg zu sammeln und vom Schwedischen Roten Kreuz betreuen zu lassen. Schweden musste den Transport unter absoluter Geheimhaltung selbst organisieren und finanzieren. In einem zweiten Gespräch mit dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes Ernst Kaltenbrunner und Geheimdienstchef Walter Schellenberg erreichte Bernadotte, dass auch die in den KZ noch lebenden skandinavischen Juden nach Neuengamme gebracht werden durften.

250 freiwillige Helfer sammelten sich am 8. März 1945 mit 75 Fahrzeugen, darunter 36 Bussen im südschwedischen Hässleholm. Alle Fahrzeuge mussten weiß gespritzt werden und ein deutlich sichtbares Rotes Kreuz tragen Am 12. März erreichte die Kolonne Friedrichsruh bei Hamburg. In abenteuerlichen Fahrten kreuz und quer durch Deutschland, unter eigenen Opfern und ständig schikaniert von der SS, holten die Betreuer skandinavische Gefangene aus den KZ nach Neuengamme.  Die Häftlinge misstrauten ihren Rettern zunächst: In Theresienstadt glaubten die 423 dänischen Juden, sie sollten getarnt in ein Vernichtungslager gebracht werden und weigerten sich anfänglich, die weißen Busse zu besteigen.

Bis Ende März war die Hälfte der Skandinavier in Neuengamme angekommen und das Lager bereits überfüllt. Am 27. und 28. März 1945 brachten „Weiße Busse“ zudem rund 2000 hauptsächlich französische, russische und polnische Häftlinge in Außenlager bei Hannover und Salzgitter. Dieser Transport glich den berüchtigten Todesmärschen von KZ-Häftlingen und die Mitwirkung der Bernadotte-Mission ruft bis zum heutigen Tag heftigste und kontroverse Debatten in der schwedischen Öffentlichkeit hervor.

Bernadotte besuchte Neuengamme am 30. März mit einer Rotkreuz-Delegation. Die Skandinavier umjubelten ihren Befreier und bestärkten ihn in dem Willen, Himmler, den er drei Tage später erneut traf, weitere Zugeständnisse abzupressen. Himmler suchte noch immer vergeblich nach einem Separatfrieden mit den westlichen Alliierten. Er stimmte zu, dass alle kranken Skandinavier nach Schweden und alle dänischen Polizisten nach Hause fahren durften. Wieder setzten sich die „Weißen Busse“, dieses Mal auch mit dänischer Hilfe in Bewegung. Am 9. April verließ der erste Krankentransport Neuengamme und fuhr zur Quarantänestation im dänischen Padborg.

Himmler, mit jedem Tag weiter in die Enge getrieben, befahl am 19. April, Neuengamme innerhalb von zwei Tagen zu räumen. Die Dänen stellten über Nacht zusätzlich 124 Fahrzeuge bereit – „das so genannte „Jyllandskorps“, vom Linienbus bis zum Fischtransporter.  Alle Fahrzeugte wieder weiß angemalt und mit dänischer Flagge. Eine halbe Stunde vor Ablauf der Frist verließ der letzte Skandinavier das Lager Neuengamme.

Bernadotte nutzte die Chance für weitere Zugeständnisse. Am 21. April erhielt er Himmlers Zusage, alle Frauen aus dem KZ Ravensbrück nach Schweden holen zu dürfen. Die Busse reichten nicht mehr aus und trotz der ständig näher rückenden Front konnte zu ihrer Unterstützung ein Güterzug mobilisiert werden. Rund 7.000 Frauen aus Frankreich, Belgien, Holland, Tschechien und Polen erreichten mit den „Weißen Bussen“ oder dem Zug die Freiheit. Ihr Leben war gerettet und die meisten erholten sich. Die Narben der Lager blieben und die menschliche Neuorientierung nach den schrecklichen Erlebnissen verlief auch in Skandinavien nicht ohne Probleme.

Bernadotte ließ sich nicht als Sieger oder Held feiern. Er arbeitete weiter, für eine Welt ohne Waffen und für die Barmherzigkeit. Er zahlte dafür mit dem eigenen Leben. Als im Jahre 1950 die Hoffnungen des schwedischen Grafen auf eine Welt ohne Waffen und voller Barmherzigkeit in einem Buch veröffentlicht wurden, war  der Autor bereits tot: Am 17. September 1948 wurde er zusammen mit dem UN-Beobachter Colonel Andre Serot in Jerusalem von militanten Führern der jüdischen Terroristen-Gruppe Lechi erschossen. Bernadotte, Beauftragter der UN für Palästina war für das Recht der Palästinenser auf Rückkehr in ihre Heimat eingetreten, ein Recht, das die UN-Vollversammlung in ihrer Resolution 194 vom 11. Dezember 1948 bekräftigte. Die Attentäter? Sie profitierten von einer Generalamnestie in Israel.

So hatte ein kleiner Junge im Frühjahr 1945 zufällig einen winzigen Ausschnitt aus der Weltgeschichte angesehen. Dabei blieb es nicht. In den letzten Kriegstagen wurde er selbst ganz direkt hineingezogen in reale Kampfhandlungen, Bombardements, Verschüttung, Flucht, und dann in die Wirren der Nachkriegszeit. Es wurde ein langer Weg bei der Suche nach Erkenntnis. Millionen von Menschen teilten dieses Schicksal und haben nicht gefragt, „was macht das mit uns“, wie heutigentags ein wohlfeiler Verkaufsslogan lautet.