Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 14. April 2008, Heft 8

Deutungshoheit

von Jörn Schütrumpf

Ein Pfarrer aus Sachsen, der bis 1989 bespitzelt wurde, darf plötzlich den Namen seines Denunzianten nicht mehr veröffentlichen; ein Gericht – wie fast alle Gerichte in Deutschland geführt von Menschen aus dem besseren Teil des Heimatlandes – hat es ihm verboten. Soweit die anomale Nachricht.

Das ZDF und einige Blätter, die im Postleitzahlgebiet 0…., 1…. und 9…. erscheinen, bringen die Geschichte groß heraus. Das wiederum ist eine normale Nachricht, normal seit 1990. Der Osten steht für Spitzel, Doping, Mauer, Stasiseilschaften, Todesschützen, Zwangs-Topfung, Berufsstalinisten, Abtreibungseldorado und Neugeborenenmord..

Darauf waren die friedlichen Revolutionäre von 1989 – als ihnen kurzzeitig die Hegemonie mehr zufiel, als daß sie sie erkämpft hatten – nun wirklich nicht eingerichtet. Viele unrevolutionäre DDR-Bürger ohnehin nicht; sie gingen 1990 mit dem Vorsatz in den Anschluß, endlich zu leben statt immer weiter einer Sache zu dienen, die nicht die ihre, zumindest nicht mehr die ihre war. Die Klügeren ahnten wohl, daß sie den Götzen nur tauschen würden – den Götzen Staat gegen den Götzen Geld. Aber sie hatten gehofft, am Götzendienst gleichberechtigt teilhaben zu dürfen. Doch damit hatten diese Ostdeutschen ihre Rechnung ohne die Wirte gemacht: ohne die Westdeutschen.

Denen hatte die 1989 mit Urgewalt hereinbrechende deutsche Einheit über Nacht etwas genommen, das noch wertvoller war als die D-Mark: die Identität. In der DDR hatte zwar Erich Honecker seit den siebziger Jahren glauben lassen, die Ostdeutschen seien auf dem Weg zu einer eigenen Nation. Wer aber in dieser Zeit wirklich zu einer eigenen Nation unterwegs war, waren die Westdeutschen. Bei ihnen hatten sich, beschleunigt durch den Regenerationsschub von 1968, eine Reihe ethnischer Merkmale des Deutschtums zurückgebildet. Die Begeisterung für Uniformen war Zivilität gewichen, geistig war man aus einer Welt voller Feinde in den Westen Europas gerückt. Juden wurden von den Jüngeren bestenfalls nur noch heimlich – sowie platonisch – gehaßt, und Kaiser, Hindenburg und Führer waren zu Recht in einem Schatten versunken, den die Sonne Amerikas warf.

Als konstituierend für die westdeutsche Identität hatte sich jedoch ein anderer Umstand erwiesen: der, im richtigen Teile Deutschlands zu leben. Spätestens mit dem Mauerbau war der Kalte Krieg um die Köpfe entschieden gewesen; die DDR war kein Konkurrent mehr. Fortan stand im Westen die DDR fast nur noch für Mauer. Die DDR war für viele Westdeutsche mehr als zweieinhalb Jahrzehnte lang tagtäglich beton-, zumindest drahtgewordene Bestätigung der Richtigkeit eigenen Tuns.

Mit dem 9. November 1989 wurde dieser westdeutsche Nationsbildungsprozeß jäh unterbrochen; viele Westdeutsche begriffen – nicht wenige erst nach einer Karenzzeit – den Mauerfall als eklatante Bedrohung, wenn nicht gar Vernichtung ihrer eigenen Identität. Daß die Ostdeutschen jetzt gleichwertig sein sollten, konnten sie nicht aushalten. Denn für viele war die Überlegenheit gegenüber den »Brüdern und Schwestern im Osten« die wichtigste Korsettstange im Psycho-Haushalt gewesen – auch wenn sie es nicht hatten wahrhaben wollen (und es bis heute nicht zuzugeben vermögen; wer richtet sich schon gern selbst – hin?). Deshalb benahm sich – im Gefolge von Kohl und Kinkel, die den Osten zur materiellen und moralischen Plünderung freigegeben hatten – das westdeutsche Staatswesen samt vielen seiner Bürger gegenüber den Ostdeutschen so, wie sie sich benahmen. Denen wurde nicht nur das Westdeutsch-Sein verweigert, sondern der Osten wurde zum »Auschwitz in den Seelen« (Jürgen Fuchs) – gern zum »Auschwitz der Seelen« verkürzt – ausgerufen.

Das Jahr 2008 nun markiert eine neuerliche Wende. Denn wir erleben nicht nur die Geschichte vom Pfarrer aus Sachsen, der unter Berufung auf den Rechtsstaat plötzlich nicht mehr seinen ehemaligen Denunzianten vorführen darf. Seit dem bei seiner Veröffentlichung heißumstrittenen Bericht der Sabrow-Kommission an den Kulturstaatsminister vom Mai 2006 – in dem Bericht ging es um die Frage, wie man künftig mit der DDR-Geschichte verfahren soll – ist Bewegung in die Debatte gekommen, die jetzt Ergebnisse zeitigt; nicht zuletzt wohl weil diese Debatte weitgehend hinter verschlossenen Türen geführt wurde.

Es gibt kein Politbüro; aber es funktioniert hervorragend. Die zur Reflexion Fähigeren unter den westdeutschen Eliten haben immerhin eines begriffen. Nachdem mehr als anderthalb Jahrzehnte auf allen Ebenen eine gezielte Herabwürdigung ostdeutscher Biographien betrieben wurde – der damalige Bundesjustizminister Klaus Kinkel hatte 1991 ganz offen die Parole von der Delegitimierung der DDR und damit aller, die an ihr mitgetan hatten, ausgegeben (siehe Das Blättchen 23/1999) –, ist etwas eingetreten, mit dem selbst die nur mäßig Überheblichen nicht gerechnet hatten: In Ostdeutschland ist den hegemonialen Institutionen und Medien die Deutungshoheit über die DDR-Geschichte und über die DDR-Biographien abhanden gekommen. Egal was von diesen Institutionen und Medien über die DDR gesagt wird – im Osten nimmt ihnen kaum noch jemand auch nur ein Wort ab.

In der Frage der DDR-Geschichte und der DDR-Biographien sehen sich viele Ostdeutsche schon seit Jahren in die SED-Zeiten zurückversetzt. Sie glauben nur einem einzigen: sich selbst. Das war vor 1989 nicht anders. Selbst seriöse DDR-Forscher rangieren heute bei vielen Ostdeutschen hinter Prostituierten, Gebrauchtwagenhändlern, Politikern und Bankern sowie kurz vor Gerhard Schröder, Stichwort: Chefsache Ost.

Da viele Ostdeutsche Gleichberechtigung nur an der Wahlurne kennenlernten, haben die Beleidigten und Beladenen – ohne alle Deklaration und völlig spontan – begonnen, sich als Ostdeutsche zu konstituieren. Man erkennt einander, quer durch alle politischen Präferenzen – und zwar mehr als vor zehn Jahren –, am »Stallgeruch« und macht keinen Hehl mehr daraus. Die Verhöhnung des Westens hat eigene Chiffren hervorgebracht und tendiert, nicht zuletzt bei den Jungen, in Richtung Rassismus. Das ist für die Hegemonie der Eliten nicht ungefährlich. Denn wem die Deutungshoheit über die Geschichte entgleitet, der verliert über kurz oder lang auch die Deutungshoheit über die Gegenwart.

Eine ostdeutsche Gegengesellschaft zwanzig Jahre nach Ableben der DDR droht plötzlich in den Bereich des Möglichen zu rücken. Das ist kein wirklich schöner Gedanke. Dann schon lieber im Hessischen Landtag die in LINKE umbenannte PDS. Denn die ist auf Dauer weniger gefährlich. Um einen separatistischen Osten zu verhindern, ist man bei den Eliten, wie es scheint, unterdessen bereit, selbst beim Antikommunismus zurückzustecken. Offensichtlich steht Deutschland hier ein ernsthafter Kulturbruch bevor; die schwerlich bestreitbare Linie von Noske über Adenauer zu Kinkel scheint ihrem Ende entgegenzustreben. (Soviel List der Geschichte wollen wir nicht kritisieren.)

Aus all diesen Gründen wird seit einiger Zeit umgesteuert. Ostdeutsche Literatur, nicht nur von Ingo Schulze, Julia Franck und Jenny Erpenbeck, ist plötzlich en vogue. In den Medien – siehe jüngst im SPIEGEL – wird auf einmal der vorgeblich massenhafte Widerstand 1968 in der DDR entdeckt. Und jetzt schon ist fürs nächste Jahr eine Charme-Offensive Richtung Ostdeutschland erkennbar: 2009 werden die Ostdeutschen – anders als 1999 und 2004 – wieder Helden sein dürfen; sie werden sich trunken geliebt fühlen.

Und damit nicht genug: Zwei Wochen vor dem 80. Geburtstag verlieh Frank Schirrmacher, Feuilletonchef der FAZ, plötzlich an den seit der Biermann-Affäre stigmatisierten Peter Hacks – der sich nach der friedlichen Revolution in einer Mischung aus Trotz und Enttäuschung über Honecker und die Seinen selbst als Stalinisten bezeichnet hatte – die höchsten Weihen: »Er ist unser.« Und die Elogendrechsler vieler anderer Zeitungen, die wie die FAZ nur das klitzekleine Problem haben, im Osten nicht gelesen zu werden, klatschten von Gründonnerstag zu Karfreitag rhythmisch mit.

Allein der gemeine Ostmensch bemerkte von alldem bisher nichts, denn das ZDF und einige Blätter, die im Postleitzahlgebiet 0…., 1…. und 9…. erscheinen – allen voran die Berliner Zeitung mit ihrer nachholenden Stasidebatte –, hasten in den bewährten Pfaden weiter. So daß es selbst dem einst ausgeschnüffelten Pfarrer aus Sachsen verwehrt ist zu begreifen, wie ihm gerade geschieht.