26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

seit rund zwölf Jahren – beginnend mit Nr. 11/2011 – haben wir jeder Blättchen-Ausgabe unter dem Rubrum „Vor 90 Jahren“ ein Reprint der Weltbühne beigefügt –„als Form des produktiven Verneigens und des Gedenkens an unsere große Vorgängerin“, wie wir seinerzeit schrieben. Viele Beiträge der Weltbühne Siegfried Jacobsohns, Kurt Tucholskys und Carl von Ossietzkys, in deren Tradition wir uns sehen, erinnern nicht nur an lange zurückliegende Geschehnisse, die nachfolgende Jahrzehnte prägen sollten; sie regen nicht minder zum Nachdenken über die Gegenwart an: Schließlich lesen wir darin vieles, was uns bis heute umtreibt – das Eintreten gegen Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung, gegen Faschismus, Rassismus und Nationalismus, für Geistesfreiheit und Geisteskultur.

Was wir mit dem Weltbühne-Jahrgang 1921 begannen, muss indes mit dem Jahrgang 1933 enden, denn vor nunmehr 90 Jahren, im März 1933, wurde die Wochenschrift von den Nazis verboten. Die Nummer 10/1933, erschienen am 7. März, war die letzte der Berliner Weltbühne. Bereits im Juni 1932 hatte die Redaktion die Rubrik „Wochenschau des Rückschritts“ in das Heft aufgenommen. Daraus wurde Anfang 1933 die „Verlustliste“, in der unter anderem über das – zunächst noch befristete – Verbot verschiedener Presseorgane berichtet wurde. Drohendes Unheil voraussehend, zitierte das Blatt in der „Verlustliste“ der Nr. 10 die „Notverordnung“ vom 28. Februar, wonach fortan „Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechtes, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnung von Haussuchungen und von Beschlagnahmen, sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig“ waren.

Carl von Ossietzky war an eben jenem 28. Februar – in der Nacht nach dem Reichstagsbrand – von zwei Kriminalbeamten aus dem Bett geholt und verhaftet worden. In der Weltbühne vom 7. März hieß es dazu unter „Antworten“: „An unsere Leser. Nach den Ereignissen des 27. Februar wurde eine Reihe von Persönlichkeiten verhaftet, unter denen sich auch der Herausgeber unseres Blattes, Carl von Ossietzky, befindet […] Wir dürfen wohl in diesem Augenblick feststellen, daß wir immer unsre warnende Stimme erhoben, daß wir uns nicht gescheut haben, den Ruf ewiger Querulanten auf uns zu nehmen, denen nichts recht zu machen ist. So schmerzlich die Konstatierung auch ist: unsre Kritik, unsre Warnungen waren mehr als berechtigt. Trotzdem: es wird weitergearbeitet, denn der Geist setzt sich doch durch.“ (Rechtschreibung des Originals).

Tatsächlich wurde eine Nr. 11 noch gedruckt, doch sie durfte nicht mehr ausgeliefert werden. Am 13. März war die Weltbühne verboten worden, die ausgedruckten Exemplare mussten vernichtet werden, Autoren wurden verfolgt, verhaftet, ins Exil getrieben. Auch die vorsorglich in Österreich gegründete Wiener Weltbühne, die etliche Beiträge ihres Berliner „Mutterblattes“ übernommen hatte, stellte noch im März 1933 ihr Erscheinen ein. Zunächst in Prag, zuletzt in Paris erschien bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 die Neue Weltbühne unter der Leitung Hermann Budzislawskis.

Unsere Rubrik „Vor 90 Jahren“ aber endet mit dieser Ausgabe. Sie lebt jedoch unter dem Titel „Vor 105 Jahren“ in unserer nächsten Nummer wieder auf. Denn vor eben 105 Jahren, im April 1918, war Siegfried Jacobsohns Schaubühne zur Weltbühne geworden. Reprints aus den Jahrgängen 1918 bis 1921 werden folgen …

Die Redaktion