26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Am Strand der weiten Welt“ – Deutsches Theater, Kammerspiele / „Totentanz“ – Berliner Ensemble

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DT-Kammerspiele: Abhauen! Oder Ausharren?

Strand und Weite und Welt – ach, da rumoren Sehnsüchte: Mal raus aus dem Trott, was Neues erleben, neu verlieben, Abenteuer. Oder gleich ganz weg vom erschlafften Dasein im öden Nest. Also Abhauen! Ein Wunsch, den alle heimlich hegen in der Familie Holmes. Wer will schon Strandgut sein.

„Am Strand der weiten Welt“ ist denn auch das programmatisch gemeinte Motto, mit der Simon Stephens sein psychologisch wie sozial fein gezeichnetes Porträt einer Normalo-Sippe aus der englischen Mittelschicht anno 2006 überschrieb. Der Titel ist ein Zitat aus einem Sonett von John Keats, der da wehmütig singt sowohl vom Wunschtraum kleiner Leute nach Ausbruch und Aufstieg als auch vom Elend eines Absturzes, vom einfach Liegenbleiben als Strandgut.

Der Mikrokosmos einer „Familienbande“ – der klassische Stoff für Dramatiker. Und erst recht für einen wie Simon Stephens, dem englischen Schreib-Star und Virtuosen des Well-Made-Plays, des Sezierens gesellschaftlicher wie auch zwischenmenschlicher Zwänge, der Nöte und Qualen uneingelöster Lebensvorstellungen.

Also die Holmes-Family: Zunächst das Enddreißiger-Ehepaar Peter und Alice (Alexander Khuon, Kathleen Morgeneyer). Er selbstständiger Gebäuderestaurator, knuffig-mürrisch und in sich gekehrt; sie verhärmt und doch irgendwie zäh, früh Hausfrau mit aufgegebenem Studium der Schwangerschaften wegen. Dann ihre lebensfrisch frechen Teenager-Söhne Alex (Niklas Wetzel), verliebt in Sarah Black (Wassilissa List), und sein jüngerer Bruder mit der Gitarre Christopher (Jona Gaensslen), auch verknallt in Sarah. Dann die Holmes-Großeltern Charlie und Ellen (Peter René Lüdicke, Barbara Schnitzler). Sie ein verblühtes, übersehenes, alles emsig umsorgendes Hausmuttchen. Er, lüsterner Rentner, Ex-Handwerksmeister (Gebäuderestauration, Alex führt seinen Laden fort), fest befreundet mit Bier und Zigaretten.

Und so werden wir ein Stündchen lang Beobachter eines Allerwelts-Familienkladderadatschs, der moderat amüsant dahinplätschert. Immerhin mit einer Aufregung: Alex will zusammen mit Sarah türmen. In London soll mehr los sein als zuhause. Ansonsten: Nix besonderes; aber eigentlich alles ganz nett. Und bisschen langweilig.

Passt für Daniela Löffner, Fachfrau fürs realistisch genaue Auspinseln und Arrangieren von Familienaufstellungen. Sie sammelte bereits Lorbeer mit Klassikern wie Gorki, Schnitzler, Hauptmann; brillierte 2015, auch in den DT-Kammerspielen, mit Turgenjews „Väter und Söhne“, eingeladen zum Theatertreffen. Jetzt also schaumgebremster Familienalltag. Durchaus effektvoll und nicht ohne Witz ausgebreitet. Raffiniert gemachtes Gewusel, noch ziemlich frei von Ahnungen, was alles drunter stecken könnte.

Doch dann erfährt man, quasi nebenher, dass Chris, der Kleine, durch bösen Zufall bei einem Autounfall ums Leben kam. Und das ist der machtvolle Schnitt.

Nun bricht die Oberfläche auf, zeigen sich die weggesteckten Konflikte: Das Unerfüllte in den Ehen, im Sex, im Beruf und Geldverdienen und überhaupt im gelähmten bisherigen Dasein, in der qualvollen Einsamkeit miteinander. Plötzlich klaffen da Risse, krachen Zerwürfnisse. Und Schluss ist mit So-Lala. Alles droht auseinanderzustürzen. Jeder will auf seine Weise das Spiel nicht mehr spielen, will Familienbande zerreißen, will abhauen.

Was der Autor sensibel entwickelt, wird von der Regie jetzt vehement durchgedrückt. War sie im ersten Teil der Geschichte auffällig moderat im Ton, womöglich zu gefällig im freilich meisterhaft arrangierten Plappern und Plätschern, dreht sie im zweiten, deutlich tragisch akzentuierten Teil, ums so forcierter auf – bis hin zur Anstrengung, zum Plakativen.

Dieses erstaunliche Manko an Feinzeichnung dämpft letztlich das sehr nuanciert, präzise und – ja schon – herzbewegende Ensemble (auch den zwei Nebenrollen sei applaudiert: Katrin Wichmann und Agnes Mann). Die Spielerinnen und Spieler auf der Höhe ihrer Kunst, die Regie nicht ganz. Man sollte nacharbeiten.

Zum signifikanten Bühnenbild von Wolfgang Menardi: Der gesamte Bühnenraum in klinisch aseptischem Weiß als kontrastreiche Hülle des chaotischen und schmerzlichen Familienbetriebs der Holmes, deren Mitglieder zwischen häuslichem Möbelramsch im Hintergrund ihrer Auftritte harren auf sich verschraubenden Drehscheiben. Also auf deutlich unsicherem, auf schwankendem Boden.

Übrigens, noch kurz vor Schluss des Abends wird – hopp, hopp! – von den Holmes‘ eine Tafel zusammengeschoben und ein großes weißes Tischtuch über das weite dunkle Feld ihrer schwelenden Konflikte gebreitet. Für die versöhnlerische Feier des Status quo. Womöglich die Strandgut-Party.

Doch überm zwielichtigen Bier-Fest schwebt schwer symbolisch ein entwurmter Holzbalken aus der Werkstatt von Peter Holmes. Als Warnbild vor künftigen Katastrophen – bei den Holmes und überhaupt.

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Berliner Ensemble: Absurde Posse im Betonbunker

Nach genau 85 Minuten endet die „Totentanz“-Inszenierung von Kay Voges in John von Düffels noch immer zu langen Kurzfassung; wobei man in den letzten zehn Minuten nochmal auf Anfang tanzt. Aha, Wiederholung des Immergleichen. Aha, Strindbergs Silberhochzeitspaar Alice und Edgar (Claude de Demo, Marc Oliver Schulze) kreiselt in der Endlosschleife: Notorischer Ehekrieg, Herumfuchteln mit Knarre und Rasiermesser, gegenseitiges Verhackstücken im rhetorischen Dauerfeuer bis dass der Tod ein Einsehen hat.

In August Strindbergs Urstück von 1900 über toxische Zweier begreift ein radikal veranlagtes Paar die Geschlechter-Schlacht als absurd gegebenes Lebensprinzip. Und exekutiert es unter zynischem Gelächter und höhnischem Heulen als brutales Spiel. Um psychologische Finessen oder subtile Figurenzeichnungen macht sich die Regie da keine Sorgen. Umso mehr kümmert sie sich um die exzessiven, immer auch wieder ins amüsant Aberwitzige getriebenen Duelle der beiden zombihaften Typen, denen ein ferner Freund namens Kurt (Gerrit Jansen) hilflos beisteht als depperter Sekundant.

Lohnt nun aber die Anstrengung? Für ein mit speziellem, tiefschwarzem Humor begabtes Publikum vielleicht. Man muss nur hinnehmen, dass Kay Voges den frühmodernen „Dodsdansen“ frech als grausamen Witz begreift, der immerhin allzeit Gegenwärtiges, eben Menschlich-Allzumenschliches streift.

Das in einem Betonbunker auf einer Quarantäne-Insel festsitzende und umeinander tobende Personal zelebriert, muss man sagen, eine schlimme Posse über ein sinnloses, notgeiles, hasserfüllles, ungetröstetes, trotzdem nach Trost dürstendes Leben. Quälen und Gequältwerden ist der Welt Alltag. Oder?

Also alles in allem ätzend fieses Entertainment. Hätte man noch besser auch in 55 statt 85 Minuten schaffen können. Und der popkulturell arg bewegte Regisseur hätte vor der Premiere besser nicht gelockt mit seiner Einladung „an Serien-Nerds“ zum „lustvollen Synapsenspiel“. Weil „Totentanz“ kurz geschlossen sei mit „Lost“, der High-Tech-Mystery-Serie aus den Nullerjahren. Alles hochgestapelt. Also nichts mit Lust sowie Synapsen. Dafür fand Daniel Roskamp die Idee vom mysteriösen Bühnenbunker, in dem jede Menge Monitore und Computersignale hübsch überflüssig flimmern.

Unsereins hingegen dachte eher an die 70er und 80er Jahre mit ihren grotesk bösen TV-Serien „Sketchup“ und „Klimbim“; von Voges nur noch bisschen böser gemacht. Aber nicht weniger wahrhaft.