26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

Zeitungsschreiber

von Max Kegel

Fünfmal hunderttausend Lumpen
Wohnten in dem großen Reich.
Aber, ach die armen Lumpen
Hatten keinen Nahrungszweig.

Sprach ein Staatsmann zu den Lumpen:
Euer Schicksal tut mir leid,
meinen Beistand sollt ihr haben,
Seid ihr mir zum Dienst bereit.

Ihr braucht nicht zum Kampf zu ziehen,
Laßt die Waffen nur in Ruh’.
Einer Feder bloß bedarf es
Und ein Tintenfaß dazu.

Ich plaziere in der Presse
Unsres Vaterlandes euch,
Und dann müsst ihr klug belügen
Alles Volk im großen Reich.

Ohne eigene Gedanken
Folget meinem Wink getreu,
Lobet alles, was ich tue,
Sei es immer, was es sei.

Kaum vernahmen es die Lumpen
Schrien alle herzlich froh:
Du kannst dich auf uns verlassen,
Wir sind Lumpen comme il faut!

Bald fand man des Handels Spuren
In der ganzen Lit’ratur,
Alles Lob und alle Ehre
Galt dem großen Staatsmann nur.

Und an weißgedeckten Tafeln,
Nobel in Glaces und Frack,
Sitzt bei Austern und Champagner
Jubelnd dieses Lumpenpack.

Beim Verlangen nach den Toasten,
Da erhebt der eine sich.
Und er spricht mit ernster Stimme:
Meine Brüder, höret mich!

Wir sind alle echte Lumpen,
Doch ein höh’rer waltet noch:
Der hat uns so gut plazieret,
Dieser Hohe lebe hoch!

Der auch als Dichter berühmter linker Gesänge bekannte Max Kegel (1850-1902) gehörte zu den großen und erfolgreichen sozialdemokratischen Zeitungsmachern. Der von linker Seite gern gescholtene australische Cambridge-Historiker Christopher Clark bemerkt in seiner Biographie über Wihelm II. (2000, deutsch 2008), dass die Meinungsvielfalt in der Wilhelminischen Ära zeitweise wohl größer gewesen wäre als im heutigen Deutschland. Die Ursache beschrieb 1965 der Hamburger Publizist Paul Sethe in einem Leserbrief an den SPIEGEL: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Frei ist, wer reich ist. Das Verhängnis besteht darin, daß die Besitzer der Zeitungen den Redakteuren immer weniger Freiheit lassen, daß sie ihnen immer mehr ihren Willen aufzwingen.“ Was Sethe noch nicht wissen konnte ist, dass inzwischen sogenannte „Content“-Produzenten wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), die der Funke-Mediengruppe oder gar die dpa und T-Online den personell ausgedörrten Redaktionen die überregionalen Inhalte liefern. Wer eine liest kennt (fast) alle.

WB