Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 31. März 2008, Heft 7

Matthäus-Passion

von Liesel Markowski

Es gibt sie nicht nur einmal in der deutschen Musikgeschichte: Die Matthäus-Passion, heute untrennbar mit dem Namen Johann Sebastian Bachs verbunden, hat eine Nachfolgerin. Ernst Pepping vertonte 1949 denselben Stoff, doch sein Passionsbericht des Matthäus wurde nach der Uraufführung 1951 durch den Thomanerchor unter Günther Ramin und weiteren zeitlich eng folgenden Präsentationen vergessen. Der Rundfunkchor Berlin hat sie nun aus der Versenkung geholt und zur Diskussion gestellt, ein Versuch der Auseinandersetzung mit belasteter, widersprüchlicher deutscher Vergangenheit. Kennenzulernen war ein ausdrucksintensives, in vielen Teilen bewegendes Werk.

Widerspruchsvoll: Ernst Pepping (1901 bis 1981), in Berlin wirkend, hatte sich zwar geweigert, der NSDAP beizutreten, und sich auf das Künstlerische, angeblich fern jeder Politik, zurückgezogen; aber er hatte sich zugleich dem Naziregime angepaßt. Das Manifest Stilwende der Musik von 1934, ein Treue-Eid auf Hitler von 1936 und ein öffentliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus, Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer 1941, Geldzuschüsse vom Reichspropagandaministerium, Freistellung von jeglichem Kriegsdienst sind Beweis dafür. So gab es zahlreiche Aufführungschancen für Pepping bei den Berliner Philharmonikern mit Furtwängler oder Karajan, beim Leipziger Gewandhaus, der Sächsischen Staatskapelle und dem Dresdner Kreuzchor. Dazu Tätigkeiten an der Berliner Musikhochschule und der nazigeleiteten Evangelischen Schule für Volksmusik. Dokumente von Kritik oder Widerstand gibt es nicht.

Pepping, ein Mitläufer und Karrierist, der die Augen vor der grausamen Realität verschloß, nur für die »unpolitische Kunst« lebte, der 1947 in Westberlin entnazifiziert wurde und alles verdrängte? Zweifellos; aber die Begegnung mit seiner Matthäus-Passion weist auch einen subjektiv um Menschliches bemühten Musiker aus. Soll sie weiter vergessen sein oder im Musikleben aktualisiert werden?

Das Aufführungsteam um den Rundfunkchor Berlin hat sich dem nachdrücklich gestellt: per Bericht im lesenswerten Beitext von Dramaturg Boris Kehrmann, vor allem durch Einstudierung und Aufführung unter dem inspirierend dirigierenden Schweden Stefan Parkman auf hohem Niveau.

Da standen die Chorsänger nicht wie üblich festgenagelt auf den Podesten, sie waren vielmehr Teilnehmer eines Dokumentartheaters, das unter Regie von Hans-Werner Kroesinger dem Verlauf der Musik entsprang. Im rauhen, industriehaften Umfeld der ehemaligen Pumpstation Radialsystem V an der Berliner Mühlenstraße schritten die Mitglieder des zweigeteilten Chores in heutigem Dress – von Jeans bis Frack alle sozialen Schichten vertretend – zu oder von ihren Notenpulten. Projektionen von jeweils charakteristischen Teilen historischer Passionsgemälde und Fotos aus dem kriegszerstörten Berlin daneben (Ausstattung: Valerie von Stillfried) vergegenwärtigten Gewalt und Unrecht durch die Zeiten, kommentierten die Musik. Eine überzeugende Konzeption.

Die Musik ist ausschließlich für A-Cappella-Chor gesetzt (keine Solisten). Im fünfteiligen Bericht ist – im Gegensatz zu Bach – somit alles kollektiv gefaßt. Mittelpunkt sind Verrat und Schuld: die des Judas, die des Petrus und des Hohen Priesters, die der Jünger. Zwischentitel wie Das Abendmahl oder Jesus und Petrus betonen dies. Die vorwiegend kontemplative, zum Teil langatmige Gestik des Gesangs steigert sich zur Gerichtsverhandlung und Kreuzigung zum intensiven Aufschrei und zur flehenden Bitte um Gnade im Epilog. Es ist immer die Schuld aller, die vorgeführt wird. Szenisch am eindrucksvollsten am Schluß, wenn Waschschüsseln und Wasser herbeigebracht, Berge weißer Handtücher aufgestapelt und alle eingeladen werden, ihre Hände in Unschuld zu waschen – Kontrast zum geradezu zerreißenden Gesang des hier vereinten Chors. Seine gesangliche Leistung unter dem intensiv agierenden Dirigenten war überragend an Homogenität, Intonationssicherheit (a-cappella!) und Ausstrahlung – leider bei ungenügender Textdeutlichkeit. Ein Werk, das heute sicher anders, vielleicht auf heutige Bedrohung bezogen, gehört wird. Dennoch bleibt die Frage nach Verdrängung persönlicher Verantwortung am deutschen Unheil der Vergangenheit offen.