Schon die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948 – eine nicht bindende Resolution der UN-Vollversammlung – beschränkte sich nicht auf die klassischen bürgerlichen Rechte, sondern enthielt wichtige Artikel zum Recht auf soziale Sicherheit, zum Recht auf Arbeit bei gleichem Lohn und zum Recht auf Bildung. Doch auch über 70 Jahre danach werden diese Rechte wohl in keinem Land der Erde umfassend garantiert. Zu verbreitet ist das Prinzip der Privatisierung der Gewinne und der Vergesellschaftung der Kosten.
Daran haben die 2011 verabschiedeten, ebenfalls unverbindlichen „UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ nichts geändert. Expliziter Ausdruck dafür ist der „Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ (NAP), den die deutsche Bundesregierung 2016 verabschiedete. Bis 2020 sollten mit ihm die UN-Leitprinzipien auf nationaler Ebene umgesetzt werden – basierend auf Freiwilligkeit. Die Bundesregierung erwartete, dass „mindestens 50 Prozent aller in Deutschland ansässigen Unternehmen mit über 500 Beschäftigten bis 2020 die (im NAP) beschriebenen Elemente menschenrechtlicher Sorgfalt in ihre Unternehmensprozesse integriert haben“. Das abschließende Monitoring im August 2020 förderte zutage, dass – je nach Branche – nur 13 bis17 Prozent der Unternehmen die ohnehin nicht zu anspruchsvollen NAP-Anforderungen erfüllt hatten. Für diesen Fall waren weitergehende Schritte bis hin zu „gesetzlichen Maßnahmen“ angekündigt. Das Ergebnis war die Verabschiedung des Lieferkettengesetzes durch den Bundestag im Juni 2021.
Das Lieferkettengesetz (LKG), offiziell das „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“, ist zwar verbindlich, bleibt aber deutlich hinter den (unverbindlichen) Empfehlungen der UN-Leitlinien zurück. Das betrifft sowohl die Länge der Lieferkette als auch die Zahl der erfassten Unternehmen: Seit dem 1. Januar 2023 betrifft es nur Unternehmen mit mehr als 3000 Beschäftigten in Deutschland, also etwa 900 an der Zahl. Mit Jahresbeginn 2024 wird es auf Unternehmen ab 1000 Beschäftigte ausgedehnt – dann sind es zirka 4800.
Ein schweres Manko ist die Reichweite des Gesetzes. Es reicht nur bis zu den unmittelbaren Zulieferern, um nachgelagerte (mittelbare) Zulieferer muss sich das deutsche Unternehmen nur beim Vorliegen „tatsächlicher Anhaltspunkte“ oder – anders ausgedrückt – bei „substantiierter Kenntnis“ von Pflichtverletzungen kümmern.
Im Gegensatz zu seiner rudimentären Ausrichtung hinsichtlich der Länge der Lieferkette und der Zahl der ihm unterworfenen Betriebe sind die vom LKG erfassten Menschenrechte umfangreich. Sie reichen vom Verbot von Kinderarbeit, Sklaverei und Ungleichbehandlung über das Recht auf gewerkschaftliche Interessenvertretung und die Beachtung des Arbeitsschutzes bis zur angemessenen Bezahlung. Selbst negative Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit sind mit einem Verbot belegt.
Die entscheidende Frage ist, ob die Anwendung dieses Gesetzes, für das zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen hart gekämpft haben, zum Regelfall wird oder ob dieses Gesetz nur der Simulation von sozialer Gerechtigkeit dient. Für die Durchsetzung des LKG ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig, das zu diesem Zweck eine Außenstelle im sächsischen Borna eingerichtet hat. Im Bundeshaushalt 2022 waren dafür 57 Planstellen vorgesehen. Auch wenn die Zahl in den nächsten Jahren noch steigen wird, dürfte eine effektive Kontrolle der Lieferketten von 4800 Unternehmen, von denen ein Teil Niederlassungen in mehreren oder gar vielen Ländern hat, kaum zu leisten sein. Die BAFA dürfte sich weitestgehend auf die Überprüfung der jährlichen Berichte beschränken, zu denen die Unternehmen ab 2024 verpflichtet sind. Mit anderen Worten: eine am Schreibtisch stattfindende Überprüfung der von den Unternehmen durchgeführten Selbstkontrolle.
Es gibt ein System, das zum Teil auf Selbstkontrolle der Industrie beruht und für das in Deutschland über 20 Jahre Erfahrung vorliegen – das System der „Guten Laborpraxis“ (GLP). Für die Zulassung von Arzneimitteln und Pestiziden liefern die Unternehmen der chemischen und Arzneimittelindustrie den Behörden Berichte, die sie selbst geschrieben haben und deren dazugehörige Versuche von ihnen durchgeführt wurden. Als Reaktion auf einen gigantischen Skandal mit massenhaft gefälschten Daten wurde in den USA in den späten 1960er Jahren das GLP-System eingeführt. Mit langer Verzögerung kam es 1990 auch in Deutschland zur Anwendung. Dieses System funktioniert ganz gut, wenn man von der immer vorhandenen Möglichkeit absieht, mit krimineller Energie ein System zu durchbrechen. Aber es ist ein System mit präzise formulierten, überprüfbaren Vorgaben, auf deren Grundlage eine innerbetriebliche Abteilung kontinuierlich und unangekündigt Vor-Ort-Kontrollen durchführt und die zuständige Behörde in zwei- bis dreijährigen Abständen eine Tiefenprüfung vornimmt. Im Lieferkettengesetz fehlen die präzise formulierten Vorgaben und turnusmäßige behördliche Tiefenprüfungen sind nicht vorgesehen.
Das einzige Plus des LKG gegenüber dem GLP-System ist mehr Transparenz. Die Unternehmen sind verpflichtet, ihre jährlichen Berichte spätestens vier Monate nach Abschluss des Geschäftsjahres im Internet zu veröffentlichen. Ab 2024 kann man prüfen, wie nachvollziehbar über die Erfüllung der Sorgfaltspflichten berichtet wurde. Das LKG enthält allerdings die dehnbare Formulierung: „Der Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheim-nissen ist dabei gebührend Rechnung zu tragen.“
Das schwerste Manko des LKG ist das Fehlen einer zivilrechtlichen Haftung, die es Betroffenen bei Pflichtverletzungen ermöglichen würde, gegen die Unternehmen zu klagen und gegebenenfalls eine Entschädigung zu verlangen. Nach Einschätzung von Nichtregierungsorganisationen ist für Betroffene der Zugang zur Justiz und zur Entschädigung weiterhin voller Hindernisse. Das Gesetz beschränkt sich auf Bußgelder bis zu 800.000 Euro, für große Unternehmen bis zu zwei Prozent des durchschnittlichen Jahresumsatzes. Außerdem ist ein Ausschluss aus der öffentlichen Vergabe möglich.
Das Gesetz definiert als eine der wichtigsten Voraussetzungen für alle weiteren Maßnahmen, was ein „menschenrechtliches Risiko“ darstellt. Laut Paragraph 2 ist das „ein Zustand, bei dem aufgrund tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Verstoß gegen eines der folgenden Verbote droht“, es folgt eine lange Liste. Im konkreten Fall werden Unternehmen viele Möglichkeiten haben, Verstöße abzustreiten. Denn wenn es in anderem Zusammenhang selbst in klar definierten Fallen möglich ist, die Tatsachen zu verdrehen – es sei an den Streit erinnert, ob Glyphosat krebserregend ist oder nicht –, wird es beispielsweise bei dem im LKG definierten Verbot „der Herbeiführung einer schädlichen Bodenveränderung, Gewässerverunreinigung, Luftverunreinigung (…) oder eines übermäßigen Wasserverbrauchs“ umso schwieriger sein, die Dinge festzunageln.
Das beginnt bei der Ermittlung des Verursachers eines Umweltschadens, insbesondere, wenn – wie in Industriegebieten üblich – mehrere Verursacher dazu beigetragen haben können. Es setzt sich fort bei der Definition, was tatsächlich als Schaden gilt. Die Unternehmen werden sich vermutlich hinter den oftmals schwachen nationalen Regulierungen verschanzen.
Das Gesetz wird die Möglichkeit erleichtern, bei emblematischen Fällen für betroffene Beschäftigte beziehungsweise Gemeinden Gerechtigkeit zu fordern. Doch es wird weiterhin notwendig sein, dass die Betroffenen in den Ländern des Südens durch zivilgesellschaftliche Organisationen Unterstützung erhalten, um ihre berechtigten Forderungen zu Gehör zu bringen. Ein grundlegender Wandel in der Unternehmenskultur wäre überraschend, denn der müsste vom Gesetzgeber intensiv begleitet, um nicht zu sagen erzwungen werden. Dafür fehlen die Ressourcen und vermutlich auch der politische Wille.
Auf EU-Ebene existiert bislang nur der Entwurf eines LKG. Er sieht immerhin eine zivilrechtliche Haftung und eine Weiterverfolgung der Lieferkette über das erste Glied hinaus vor. Es muss sich zeigen, ob dies dem Lobbydruck standhalt.
Zuerst erschienen in Lunapark21, Heft 59 (September 2022). Gekürzte Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: Import, Lieferkettengesetz, Menschenrechte, Peter Clausing, Wirtschaftspolitik