von Ulrike Krenzlin
Aus der Traum von der Wildente. Sie kommt bei Michael Thalheimer auf der Bühne gar nicht mehr vor. Nur hinein in einen Dachboden wird nach ihr wie nach einem Hund gepfiffen. Doch der Dachboden, das sind nur die Zuschauer. Thomas Langhoff hat 2004 im Berliner Ensemble immerhin für jede Vorstellung eigens aus Norwegen eine Wildente eingeflogen. Das ist nun vorbei.
Großvater, einst passionierter Jäger, Sohn Hjalmar und Tochter Hedvig Ekdal, die drei pfeifen, wie jeder es kann, leise, laut oder unhörbar und locken damit Hasen, Tauben und die Wildente, die mitten unter diesen Tieren im Strohkorb lebt. Mutter Gina freut sich über das abwechslungsreiche Leben ihrer Familie. Ansonsten regelt sie die Geschäfte ihres Mannes, des erfolglosen Fotografen Ekdal. Die Familie lebt fast ohne Fotoaufträge im Dachatalier.
Tot wäre die Wildente längst, aber Großkaufmann Werle, leidenschaftlicher Jäger, nun halbblind, hat, statt scharf zu treffen, nur ihren Flügel angeschossen. Sein Jagdhund rettete den Vogel aus dem morastigen Wassergrund, in den verletzte Enten zurückkehren, um zu sterben. Nun lebt sie bei der Familie des verkrachten Fotografen Hjalmar, seiner Frau Gina und der 14jährigen Tochter. Alle lieben diese Wildente. An ihr hat sich die Liebe der Familie zueinander verknotet. Der kranke Vogel steht sinnfällig als Zeichen für funktionierende Beziehungen, die, wenn schon so glücklich entfaltet wie bei den Ekdals, sich auf einer dünnen Eisdecke bewegen. Aber das Eis ist auch hier dünn. In dieser Familie schwelt eine Lebenslüge.
Der alte Werle hat Gina, seit fünfzehn Jahren Frau Ekdal, sein ehemaliges Dienstmädchen, verführt und ihr ein Kind gemacht. Das ist die vierzehnjährige Hedvig. Niemand, außer den beiden, weiß davon. Um diesen Fehltritt wettzumachen, verheiratete der Unternehmer die Geliebte mit dem untüchtigen Freund seines Sohnes, Hjalmar Ekdal. Er bezahlt ihm eine Fotografenausbildung, außerdem vergütet er dem Großvater Schreibarbeiten. Seit dem Vorfall hilft er, wo er kann. Doch noch einer kennt dieses Geheimnis. Das ist Werles Sohn, Gregers, der nach fünfzehn Jahren Studium und Arbeit nach Hause zurückkehrt.
Schroff stellt Gregers seinen Vater zur Rede, dann entdeckt er Hjalmar Ekdal die ganze Schande. Denn Gregers lebt in der Überzeugung, daß nur die reine Wahrheit Lebensgrundlage sein kann. Mit der zerstörten Lebenslüge kann Ekdal aber nicht leben. Sein Glück fällt im Nu wie ein Kartenhaus zusammen.
Auch Ehefrau Gina muß ihren Fehltritt zugeben. Endlich fühlt sich Ekdal wie ein richtiger Mann, als er – mit Ingo Hülsmanns hinausschreiender Verzweiflung – Frau und uneheliches Kind verdammt. Er beschließt die Trennung von ihnen. Gregers treibt das Unglück der Familie an seiner empfindlichsten Stelle voran, er fordert Hedvig unter vier Augen dazu auf, ihr Liebesobjekt, die Wildente, zu erschießen, damit der Vater zurückkommt. Das bringt Hedvig nicht fertig, denn sie kennt die Liebe. Jetzt schält sich der Kern der Geschichte heraus: Nur eine Liebe ist echt, das ist die Liebe des Mädchen Hedvig. Die Wandlung von Liebe in Haß um sie herum vermag die Vierzehnjährige nicht zu verarbeiten, so erschießt sie sich selbst. Damit ist das Unglück über die Familie gekommen.
Das Bühnenbild von Olaf Altmann ist minimal art. Er hält die Bühne vollständig leer. Stuhl und Tisch, die Möbel, an denen die Familie ihre glücklichen Stunden verlebte, das Sofa, auf dem sie sich alle drei so oft herzten, alles ist weg. Dafür rutschen die Umschlungenen wie auf dem Jahrmarkt die steile Bühne herunter. Auch sonst kauern und sitzen die Schauspieler nur auf der riesigen Drehscheibe, die wie ein Riesenrad auch von unten nach oben schwenkt und den Szenenwechsel bewerkstelligt. Bei den Frauen sieht man andauernd die Schlüpfer unterm Kleid.
Thalheimer Kritiker reden hier viel von gelungener Entschlackung des Ibsen-Stückes und von einer für heutiges Verständnis gelungenen rigorosen Textkürzung. Das sind Verluste an Ibsens Drama. Die Philosophie von Gregers reiner Wahrheit und die Erfindung von Ekdal sind aus dem Stück verschwunden. Heute, wo sich immer mehr Verluste anhäufen, wird am liebsten gleich nach dem Gewinn im Verlust gesucht. Altmanns Bühnenraum mit den leeren Holzkästen – wie zuletzt in den Ratten und in Faust. Der Tragödie Erster Teil, fordert von den Schauspielern ungewohnte intensivste Gestik und Mimik. Bei ihm lebt die Stegreifbühne auf. Ingo Hülsmann als Hjalmar Ekdal gestikuliert und stottert viel, ehe er Worte findet. Schon bevor man erfahren hat, warum, ist er hingestürzt. Hierin wandelt er in den Spuren von Walter Schmiedinger.
Ekdals Angeberei mit seiner aussichtslosen Erfindung, die es ihm gestattet, jeder Pflicht auszuweichen, die vielen Knallküsse, die er seiner Tochter aufschmatzt, gleichzeitig alle Unaufmerksamkeiten ihr gegenüber und die rasche Abwendung von ihr, hat Hülsmann zu artifiziellen Hochleistungen an Lebensbeobachtung des Heute und Jetzt gesteigert. In ihm schlummern noch große Reserven.
Der suggestive Sven Lehmann ist von Michael Thalheimer, Hausregisseur des Deutschen Theaters, mit der Rolle des steifen Wahrheitsfanatikers Gregers Werle nicht optimal besetzt. Er handelt eigentlich ständig gegen seine eigenen, Sven Lehmanns, schauspielerische Stärken. Das zu sehen, schmerzt. Almut Zilchers Gina hat gar nichts mehr zu tun mit Ibsens verunsicherten Frauengestalten. Ibsens Worte über den Fehltritt verkehren sich in Ihrem Mund zu wahren Vorwurfseskapaden, zu denen ihr konvulsivisches Springen auf der Bühne mit vorgewölbtem Bauch gehört, genauso häßlich wie bei uns zu Hause. Henrike Jörissen hingegen spielt eine berührende Hedvig. Die Kurzsichtige trägt zwar nicht die dicke Wilhelm-Busch-Brille wie Stefanie Stappenbeck bei Thomas Langhoff. Hedvig tapst hier im Dunklen durch das Atelier, wegen ihrer Augenkrankheit wie ihr richtiger Vater. Je nach Befindlichkeit stolpert oder tänzelt sie leichtfüßig die schiefe Bühne hinauf. Herzerweichend trifft sie Bockigkeit und Anhänglichkeit einer Halbwüchsigen.
Ergebnis. Mit Ibsen hat die entkernte Fabel kaum noch etwas zu tun. Will es auch nicht. Es geht um heute. Michael Thalheimer hat Riesenerfolg. Alle seine Stücke fürs DT sind total ausverkauft. Sein Geheimnis. Er entkernt die Geschichte von Ibsen bis auf ihr Gerippe. Es fällt einem wie Schuppen von den Augen. Man versteht die Geschichte. Es ist aber nicht die von damals. Die Aktualisierung der Wildente zeigt wie in Marc Ravenhills Gestochen scharfen Lolaroids überscharf den eigenen Lebensstil: in unserem Fall alle Varianten aus der Bild. Was geschieht, wenn heute ein Mann erfährt, daß das vermeintlich eigene Kind nicht seins ist? Nichts anderes als bei Henrik Ibsen. Entweder er läßt sich scheiden, er erschießt sich oder seine Frau. Oder die Frau tötet sich und ihrer Kinder. Auch mit Ibsen können wir bei uns ankommen.
Nächste Vorstellungen: Deutsches Theater Berlin, 25. und 29. März
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