von Harald Kretzschmar
Wenn man einen Standpunkt hat, pflegt man auf ihm beharrlich zu stehen. Oder man umkreist ihn kunstvoll in dialektischen Schwüngen. Man ist ja flexibel und läßt sich gelegentlich belehren. Ich habe meine persönliche Geschichte, und eine Meinung dazu. Was meine eigene Geschichte betrifft, da wird mir aber neuerdings eine ganze Menge zugemutet. Ich werde einsortiert. So und nicht anders hat meine Geschichte gefälligst gewesen zu sein. Basta. War ich nicht Opfer, bleibt nur der Täter oder der Anpasser übrig. Die Begriffe sind vorgegeben. Was die vorletzte Vergangenheit betrifft, haben Diktatur, Flucht, Vertreibung Konjunktur. Bombenterror, Fahnenflucht, Kriegsgewinn sind diskutabel. Beim letzterlebten System haben Befreiung, Antifaschismus, Menschenbild viel schlechtere Karten. Eingemauert, bespitzelt, unfrei muß ich mich gefühlt haben. Ein wenig Alltag gehabt zu haben, das wird mir allenfalls zugebilligt. Ein Alltagsmensch, ein alltäglicher Typ, ja, das ist korrekt. Als historische Nischenfigur bin ich akzeptiert.
Aber wir diskutieren ja. Disput oder Diskurs nennen wir das. Scharf geschliffene Worthülsen fliegen hin und her. Ich ziehe den Kopf ein. Sicherheitshalber.. Nur: Das geduckte Dasein liegt mir nicht sonderlich. Schlagabtausch oder Gespräch, das ist die Frage. Mein Geschichtslehrer hat mich schon mit Daten bombardiert. Immer und immer wieder soll ich an Niederlagen glauben. Damals die Schlacht bei Cannae, heute der 17. Juni. Erst der Fenstersturz zu Prag, dann der 13. August. Eherne historische Daten. Zusammenhänge? Ursachen? Nebensächlich. Ich habe mich schon damals gefragt – wo bleibt das wirkliche Leben bei der historischen Erbsenzählerei? Wie viele Krieger standen an den Thermopylen, wie viele Flüchtlinge passierten das Lager Marienfelde? Geschichte als Rechenexempel. Als Alternative nur die Schlagwörterhalde. Wer von heute ist, gebraucht gestanzte Begriffe von Gesinnungsdiktatur bis Herrschaftswissen. Die Ewiggestrigen dürfen bleiben, wo sie damals waren, bei Sättigungsbeilage bis Wettbewerbssieger..
Die Devise heißt mal wieder Einholen – der herrschenden Meinung und anschließend der allzu keck gehißten Flagge. Nun auch auf altbundesrepublikanischem Terrain. Wie stürmisch schwenkten noch vor Jahren die 68er das Banner ihrer Gesellschaftserneuerung. Mao und Kommune, Fritz Teufel und – igittigitt – die Meinhof waren ja schon längst abgehängt und aussortiert. Man hatte sich halbwegs darauf geeinigt, daß nach 68 eine vernünftigere und aufgeklärtere Bundesrepublik entstanden war, so oder so, aber immerhin. Alles hinfällig. Götz Aly und so mancher anderer Wohngemeinschaftsfan von 68 – spät zeigen sie nun Reue. Bekennen zerknirscht, unzivilisiert wie die Bücherverbrenner von 33 randaliert zu haben. Überholen ihre Meinung von gestern, ihre verstocktesten Gegner und Leugner sowie einen verbliebenen gesunden Menschenverstand gleichzeitig. Es lebe die Niederlage – wir haben sie nicht anders verdient.
Da regt sich schüchterne Widerrede. Leises Raunen verweist auf andere Bewegungen in ähnliche Richtungen. 68 im Osten. Ogottogott – im Osten? Das Datum bitte! Na, Prager Frühling … Falsch! 21. August 68 Einmarsch ist richtig. Setzen Sie sich! So funktioniert der Geschichtsunterricht für mündige Bürger heute. Neues Lebensgefühl jenseits von Dogmen? Intellektuelle mit nennenswertem Wirkungsradius? Noch nie gehört. Niemand kommt auf die Idee, mal Volker Braun zu zitieren. Immerhin 1966: »Kommt uns nicht mit Fertigem! Hier herrscht das Experiment und keine steife Routine.« Hatte das keine Wirkung? Großauflagen, Schwerpunktausstellungen, ausverkaufte Rockkonzerte mit innovativen Inhalten und Formen? Gab es zum offiziellen Programm keine alternativen Interpretationen mit offenem Ausgang? Versuche über Versuche? Gescheitert die einen, gelungen die anderen? Du übertreibst schamlos, höre ich. Durftest wohl damals in den Westen reisen? Dein Hintern wurde wohl aus Versehen nicht verdroschen? Sehr verdächtig.
Aber lassen wir die Kirche im Dorf. Miserables und Blamables soll nicht im nachhinein schön geredet werden. Darum geht es gar nicht. Es geht ganz schlicht um Kulturgeschichte nach 68. Um die vielen kleinen Siege schöpferischer Potenz. Das Rollen der Panzer einer fatalen Maschinerie der Unterdrückung war nicht der Rhythmus der siebziger und achtziger Jahre allein. Wer suggeriert uns, das Schlüsselklappern unserer Beschließer sei die Musik dieser Zeit gewesen? Wieso verstecken wir ununterbrochen bleibende Kunstwerke in den Museumsdepots? Hinter und neben Heisig, Tübke, Mattheuer, Sitte, von denen Ausgewähltes zähneknirschend akzeptiert wird, gab es ein riesenhaftes Reservoir achtbarer bildender Kunst. Viel öfter ohne Staatsauftrag entstanden, als angenommen.. Ergebnisse weit jenseits ideologischer Verblendung warten auf Wiederentdeckung.
Vom gegenwärtigen Phrasenmüll zugedeckte literarische, musikalische, publizistische Leistungen – wer gräbt sie aus? Vor allem: Wer wertet objektiv Leistung? Wer stellt in einen gesamtdeutschen Kontext? Denn es ist vieles aus einem Lebensgefühl entstanden, das viel mehr deutsch-deutsche Gemeinsamkeit enthielt, als sich unsere Schulweisheit heute träumen läßt. Und ein gut Teil davon geht aufs Konto einer 68er Revolte, die auf Lebensverhältnisse gerade deshalb so stark ausstrahlte, weil sie politisch erfolglos war. Offensichtlich findet diese Erkenntnis von paradoxer dialektischer Widersprüchlichkeit nur in wenigen mitdenkenden Gehirnen Platz. Schade drum, finde ich. Ich plädiere für Geschichtsschreibung, die außer dem Gerippe aus politischen Daten und Fakten den pulsierenden Organismus der Kultur zur Kenntnis nimmt. Die Behinderung kreativer Initiativen konnte diese nicht ungeschehen machen. Und unwirksam erst recht nicht.
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