25. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2022

Ein Atlas als „Welttheater“

von Jürgen Hauschke

Gerade veröffentlichte der Verlag C.H.Beck den aus dem Französischen übersetzten Geschichtsatlas des Geografen und Historikers Christian Grataloup: „Die Geschichte der Welt. Ein Atlas“. Wird solch ein neues Buch benötigt? Ein Geschichtsatlas, der noch dazu schwer in der Hand liegt. Knapp 1700 Gramm auf 640 Seiten. Die haptische Wahrnehmung besticht dennoch. Die Papierqualität ist hervorragend. Der durchgängige Farbdruck ist angenehm fürs Auge; klare pastellartige Farben in mehreren Abstufungen ermöglichen einen guten Überblick auf den insgesamt 515 Karten. Auch das Format des Buches (24,6/17,8/3,6 cm) lädt zum interessierten Stöbern ein. Das Daumenregister hilft beim Finden der 13 Kapitel von „Eine einzige Menschheit“ bis „Die Welt seit 1989“.

Patrick Boucheron, Herausgeber des Bestsellers „L’Histoire mondiale de la France“, berichtet in der Einleitung davon, wie Grataloup „den Traum von einer geografischen Weltgeschichte verwirklicht – von einem in Karten erzählten Bericht über den Zustand der Welt im Lauf der Geschichte“. Grataloup nutzt den Kartenfundus der 1978 gegründeten Zeitschrift L’Histoire. Modifizierung, Bearbeitung oder Erstellung der vielen Karten erforderten die Arbeit eines Teams vieler Kartografen und Historiker. Über Geschichte zu schreiben, heißt auch und vor allem, Bilder heraufzubeschwören. Die Darstellung der historischen Ereignisse wird imaginiert. Die Wechselwirkung von Zeit und Raum erscheint kartografisch veranschaulicht und nachbildend dargestellt. Boucheron resümiert zum Inhalt des Atlanten: „Wir […] entdecken mit Freude Altbekanntes, lernen jedoch auch viel Neues, Dinge, von denen wir wussten, dass wir sie nicht wussten, und manchmal auch Dinge, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir sie nicht wussten.“

Grataloup emanzipiert sich von den großen eurozentristischen (und frankophilen) kartografischen und historischen Darstellungen. Atlanten mit Geschichtskarten bringen das „Welttheater“ auf die Bühne. Sie sollen, wenn es nach ihm ginge, keine weißen Flecken auf der Landkarte oder Lücken im Zeitstrahl lassen.

Die Erde als Globus gesehen konfrontiert den Kartografen mit der Problematik der Planisphäre. Die Kartenprojektion erweist sich stets als Widerspruch zwischen der Dreidimensionalität der Erde und der zweidimensionalen Kartenfläche. Der Autor bekennt, dass keine Projektion absolut zufriedenstellend ist, deshalb verwendet er wechselnde Projektionen. Auch die Reihenfolge der Karten in den verschiedenen Zeitachsen birgt mitunter Überraschungen. Die Hauptachse der Alten Welt nimmt in China ihren Anfang und endet in Europa. Im Allgemeinen folgen die Karten der üblichen Anordnung der Himmelsrichtungen: Norden liegt oben, Osten rechts und so weiter. Für ein deutlich besseres Verständnis der Beziehungen und Zusammenhänge verschiebt Grataloup mitunter die geografischen Angelpunkte. Auf der doppelseitigen Weltkarte zur ersten Teilung der Welt (Vertag von Tordesillas 1494) „wandert“ der Nordpol etwa ein Viertel der Seite nach unten, die Erdkugel wird quasi auf der Kartenfläche nach vorn gekippt. Das Ergebnis ist sehenswert: Die Aufteilung der Welt zwischen Portugal und Spanien ist über den gesamten Globus besser verständlich.

Diese Methode wird öfter genutzt und nach Bedarf erweitert. So wird das Inkareich um 90 Grad gedreht, weil es sich so besser erklären lässt. Auf der Karte „Die USA in der Welt (1990er bis 2000er Jahre)“ „wandern“ die USA ins globale Zentrum. Auf einer anderen Karte ist es „China im 21. Jahrhundert“. Oder es ist Europa auf der Karte „Mauern ab 1900“. Die letztere ist hochinteressant: Sie verzeichnet Mauern zwischen 1908 (Spanien und Vereinigtes Königreich/Gibraltar) und 2022 (Polen und Belarus). Wobei die überwiegende Anzahl von Mauern (mehr als 25) – verstanden als physische Abschottung von Grenzen – erst in den letzten zwanzig Jahren errichtet wurde.

Die Kartenvielfalt ist immens. Die klassischen Themen der historischen Kartografie wie Entdeckungsreisen, Schlachten und Kriegsverläufe, Bevölkerungsentwicklungen, territoriale Veränderungen oder Ausbreitung kultureller Entwicklungen finden sich selbstverständlich in diesem Atlas. Aber auch neue, zeitgenössische Themen wurden aufgenommen: die bereits genannten Mauern, der Völkermord an den Armeniern, Guerillabewegungen in Lateinamerika, der „Arabische Frühling“ oder Auswirkungen des Klimawandels. Jede Karte wird mit einem kurzen historischen Begleittext in ihren jeweiligen welthistorischen Kontext gestellt. Der Atlas vereint zugleich mehrere Atlanten in sich. Zum Beispiel auf der Suche nach der kartografischen Geschichte Frankreichs oder Chinas findet man leicht die erwartbaren Darstellungen, kann sich aber auch gezielt auf die Spuren Jeanne d’Arcs begeben oder dem Langen Marsch folgen. Hilfreich ist hierfür, dass auf jeder Doppelseite rechts oben Verweise auf weitere Karten zu finden sind.

Trotz des weltgeschichtlichen Ansatzes und der postulierten Abkehr vom Eurozentrismus verhehlt der Franzose Grataloup sein nationales Herkommen nicht. Das zeigt sich auch in der hinzugefügten Bibliografie. Das Kapitel zu „Europa 1789 – 1914“ beginnt beispielhaft mit etlichen Karten zur französischen Geschichte. Interessierte zur deutschen Geschichte in all ihren vielfältigen Facetten kommen aber auch nicht zu kurz.

Wer sich fragt, ob sein alter Geschichtsatlas ausreicht. Seien es der Putzger („Historischer Weltatlas“, bis heute in 105 Auflagen, jetzt bei Cornelsen, erschienen) oder der zweibändige „Atlas zur Geschichte“ (Akademie der Wissenschaften der DDR, bei Herrmann Haack, Geographisch-Kartographische Anstalt Gotha/Leipzig erschienen). Wer sich das also fragt oder die eingangs gestellte Frage formuliert, der sei auf den vielfältigen Erkenntnisgewinn des sicher zum Grataloup avancierenden Atlas für das Zeitalter der Globalgeschichte und der Globalisierung verwiesen. Ein klares Ja für das Buch.

Christian Grataloup, geboren 1951, war als Geohistoriker bis 2014 Professor an der Universität Denis Diderot in Paris. Er gilt als „der größte Historiker unter den Geografen“, wie so oft gilt auch die umgekehrte Bezeichnung: größter Geograf unter den Historikern. 2020 veröffentlichte er sein international bekanntes Buch „Die Erfindung der Kontinente. Eine Geschichte der Darstellung der Welt“ (2021 auf Deutsch). 2019 bereits erschien auf Französisch der hier besprochene Geschichtsatlas. In Frankreich wurde er ein Erfolgsbuch.

Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt. Ein Atlas. Mit einer Einführung von Patrick Boucheron. Aus dem Französischen von Martin Bayer u.a., Verlag C.H.Beck, München 2022, 640 Seiten, 39,95 Euro