25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Der Streit um den Streit

von Joachim Lange

Der Begriff „Schweigespirale“ gehört zu der von Elisabeth Noelle-Neumann in den 70er Jahren formulierten Theorie der öffentlichen Meinung. Er beschreibt die Zurückhaltung vieler Menschen, öffentlich ihre Meinung nicht zu äußern, wenn die nicht dem Mainstream entspricht.

Ulrike Ackermann nennt ihr aktuelles Buch „Die neue Schweigespirale“ – mit kursiver Hervorhebung im Titel. Der Vorteil dieser 160 Seiten Schrift ist zugleich ihr Nachteil: Es ist eine Streitschrift, die Partei ist und nimmt. In einer Auseinandersetzung, die man – abwiegelnd – als Streit um Stilfragen oder – auf die Spitze getrieben – als eskalierenden Kulturkampf diagnostizieren kann.

Damit ist der Lanz-Effekt bei der Rezeption vorprogrammiert. Den hat der Was-macht-das-mit-Ihnen?-Talker gerade exemplarisch und zum Thema passend vorgeführt. Er hatte Richard David Precht (Philosoph) und Harald Welzer (Sozialpsychologe) auf der einen Seite und Robin Alexander (DIE WELT) sowie Melanie Amann (DER SPIEGEL) auf der anderen eingeladen, um über das Buch „Die vierte Gewalt“ der beiden selbst recht medienpräsenten Wissenschaftler zu diskutieren. Die beiden Autoren sollten ihr neues Buch vorstellen und die Premiumjournalisten Gelegenheit bekommen, nicht nur deren Analyse zu attackierten, sondern zugleich die dieser zugrundeliegende Methodik in Frage zu stellen. Die Journalisten nahmen dabei die Tatsache einer Zwei-gegen-Zwei-Konstellation mit einem vergleichsweise moderat Moderierenden als Beleg für die von ihnen vertretene allgemeine Ausgewogenheit in der Reflexion von öffentlicher Meinung durch die klassischen Medien, deren Auseinanderfallen ja – gerade bei Lanz – die nicht nur gefühlte weitgehende Regel ist. Auf den gleichwohl berechtigten Einwand, eine solche Diskrepanz-Diagnose doch besser empirisch zu belegen, kündigte Welzer für die nächste Zukunft eine entsprechende Publikation an.

Mit dem Untertitel von „Die vierte Gewalt“ – „Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ – umreißen die beiden Autoren ein inzwischen verbreitetes Phänomen, das auch Ackermann zu ihrer Streitschrift bewogen hat. Deren Untertitel – „Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt“ – konzentriert das Feld ihrer Analyse auf den Bereich der Wissenschaft und da vor allem der Universitäten.

Wie es Streitschriften für ein breiteres, interessiertes Publikum so an sich haben, dienen sie nicht in erster Linie einer abwägenden Betrachtung und Analyse. Sie werden in ihrem argumentativen Furor jenen, die den stets klar erkennbaren Standpunkt der Autorin teilen, sozusagen aus dem Herzen sprechen. Der andere Teil der Leserschaft wird seine Abwehrhaltung gegenüber der Kritik etwa an Neusprech- und Betroffenheits-Aktivisten, die die Vergangenheit korrigieren und Gegenwart sowie Zukunft nach ihrer Agenda verändern wollen und deren Aktivitäten in einer Eskalation verschiedener Spielarten von Cancel Culture münden, bestärkt sehen.

Dass die stärkste Waffe der Autorin für die diagnostizierte Erosion der Diskussionsfreiheit in den Medien, der Kultur, vor allem aber an den Universitäten, also in der Wissenschaft, meist medial ausführlich gespiegelte Einzelbeispiele mit Erregungspotential für den „gesunden Menschenverstand“ sind, ist natürlich nicht falsch – so funktioniert eine Abhandlung für ein breites, nicht fachwissenschaftliches Publikum nun mal. Damit werden die Positionen im Hinblick auf ihre Verallgemeinerbarkeit aber natürlich auch angreifbar.

Dass in der Debattenkultur allerdings etwas aus dem Pro-und-Contra-Lot geraten ist, ist evident. Das angeblich freiwillig um sich greifende Gender-Neusprech im Rundfunk oder in den Programmheften der Theater, die bewertungsrelevant erzwungenen Gendersternchen oder sonstigen Attacken auf den Regel- und Gewohnheitskanon der Sprache an den Universitäten oder in übereifrigen Kommunen schwappen in den Kommunikationsalltag eines jeden. Man könnte das noch mit der schleichenden Anglifizierung der Sprache vor allem in der alten Bundesrepublik (eine auch nur annähernd dem entsprechende Russifizierung des Deutschen in der DDR hat es übrigens nie gegeben) vergleichen, gegenüber der man nur noch mehr oder weniger hinhaltenden individuellen Widerstand leisten kann.

Ackermann ordnet diese Oberflächenphänomene jedoch einem dahinterstehenden Kampf von Identitären verschiedenster Spielarten zu, die mit dem Kampf um die Diskurshoheit ihre Agenda durchsetzen wollen und damit sowohl die Errungenschaften der Aufklärung als auch die Spielregeln der Demokratie beschädigen, wenn nicht gar infragestellen. Wenn aber Dominanz im Diskurs, der bisher zum Überprüfen und im Falle des Falles zum Falsifizieren von Argumenten (Karl Popper folgend) diente, nunmehr auf den Ausschluss derer aus dem Diskurs zielt, die „falsche“ Argumente vertreten, dann wird es ernst.

Und an dem Punkt sieht Ackermann unsere Gesellschaft.

Wenn die gefühlte und von Aktivisten lautstark artikulierte „Bedrohung“ durch Argumente zur Einrichtung von Safe Spaces für eine konfliktfreie Debatte an Universitäten führt, ist das ein Widerspruch in sich. Ebenso, wenn Referenten wegen deren Position ausgeladen werden. Oder, wenn die berechtigten Rassismusdebatten in eine Art von Neorassismus umschlagen oder wenn die bislang im Hinblick auf Quantität und Eigendynamik kaum ernsthaft untersuchten sogenannten Shitstorms in den sozialen Medien sogar die Entscheidungen von Politikern beeinflussen, dann sind das für Ackermann Triumphe einer hysterischen Selbstermächtigung, respektive Anmaßung und Alarmzeichen, die Widerstand und Umkehr verlangen. Wobei der Schutzschild, den die genannten Phänomene für sich und ihre Entouragen aufgespannt haben, auf die prinzipielle Unterstellung von strukturell weißen, heteronormativ patriarchalischen Argumentationsmustern hinausläuft. Womit jegliche Diskussion verweigert wird.

Die Auseinandersetzung darüber muss gleichwohl im Detail geführt werden, weil die diagnostizierte Bedrohung für Diskurs- und Meinungsfreiheit, zumindest hierzulande, nicht vom Staat oder einer autoritären Macht ausgeübt wird, sondern aus der Dynamik der Kommunikation erwächst, wie sie heute dank der sozialen Medien leicht auch von kleinen Gruppen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden können.

Zu den solcher Art neu etablierten Glaubenswahrheiten, an deren Anerkennung jede Meinungsäußerung gemessen wird, gehört die These von der freien Wahl des individuellen Geschlechtes, und zwar unabhängig vom biologischen Geburtsgeschlecht. Oder, dass Sprache grundsätzlich sexistisch sei. Oder, dass kein Weißer qua Geburt dem strukturellen Rassismus entkommen könne. Und als Clou, dass die ganze Moderne, inklusive der Aufklärung, nur Instrumente des Machterhaltes einer Elite sei, die man bekämpfen müsse …

Das Problem freilich liegt nicht in der jeweiligen (In-)Fragestellung von tradierten Mehrheitsmeinungen, sondern in der Verabsolutierung der geltend gemachten Gegenpositionen, womit statt der Überwindung von Differenzen deren Zementierung erreicht wird. Das liegt aber durchaus in der Intention der betreffenden Protagonisten, denen es gerade nicht um konsensuale Lösungen geht, sondern im Endeffekt um Etablierung neuer, nämlich ihrer Herrschaft.

Übrigens: Man ginge als potenzieller Leser den gefährlichen Symptomen der Verengung des Meinungskorridors auf den Leim, wenn man die Tatsache, dass Ackermanns Buch auch vom umstrittenen Antaios Verlag angeboten wird, gegen dessen Relevanz für einen offenen, freien Diskurs ins Feld führen würde. Dass zwei plus zwei vier ist, bleibt auch dann richtig, wenn es die „Falschen“ behaupten.

Ulrike Ackermann: Die neue Schweigespirale – Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt, Theiss in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg), Darmstadt 2022, 176 Seiten, 22,00 Euro (Taschenbuch), 17,99 Euro (Kindle).