25. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2022

Ein unvergessliches Konzert

von Gerhard Müller

Nie werde ich dieses Konzert vergessen. Die 15. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch verklang, Jewgeni Swetlanow senkte den Taktstock, es erhob sich ein Jubelsturm. Swetlanow wies auf die Loge, wo Schostakowitsch zusammengesunken, scheinbar teilnahmslos saß, neben ihm der gerade entmachtete Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht. Der erhob sich, die Lage grotesk verkennend, und verbeugte sich lächelnd. Augenblicklich verstummte der Applaus. Ulbricht drehte sich um und ging. Ein Diktator verließ den Raum. Endlich erhob sich Schostakowitsch, und der Beifall wurde zur politischen Demonstration. Lange später sah man noch Schostakowitsch, Arm in Arm mitKurt Sanderling, langsam durch das Foyer gehen – der einst von Hitler verfolgte jüdische deutsche Dirigent und der von Stalin verfemte sowjetische Komponist.

An dieses symbolische Bild erinnerte ich mich, als ich vor einigen Tagen in der St. Georgen-Kirche in Wismar das Abschlusskonzert des Festspielsommers 2022 der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern hörte. Auch hier waltete eine ergreifende Symbolik und warf ihr Licht auf die verworrene Situation unserer Tage. Am Dirigentenpult erschien der lettische Dirigent Andris Poga und dirigierte die 15. Sinfonie von Schostakowitsch. Bekanntlich hatten der ukrainische Präsident Selenskyj und sein Botschafter Melnik schon mehrfach gefordert, alle russische Musik aus den Spielplänen zu entfernen und ihre uneinsichtigen Interpreten zu boykottieren, um Putin zu bestrafen. Das erinnert doch fatal an die einstigen weisen Regelungen von Goebbels und Shdanow, falls noch jemand wissen sollte, wer das war.

Das Wismarer Konzert konnte seine symbolische politische Kraft entfalten, weil es sich als ein künstlerisches Ereignis von höchstem Rang erwies. Das war vor allem das Verdienst des lettischen Dirigenten Andris Pogas, dessen Namen ich – ich gestehe meine Unbildung – noch nie gehört hatte. Aber – davon bin ich überzeugt – man wird ihn noch oft hören; er ist ein außergewöhnliches Talent, unter dessen Händen die vertraute Musik so klingt, als höre man sie zum ersten Mal. Er ist ein kleiner Mann von gedrungener Gestalt, mit einem freundlichen, rundlichen Gesicht , der kraftvoll das vorzüglich spielende NDR-Elbphilharmonie-Orchester dirigiert. Sein Programm war durchaus polemisch angelegt. Es begann mit dem „Meistersinger“-Vorspiel, das sozusagen der musikalische Verfassungsentwurf für eine demokratische deutsche Republik ist, deren klingende Paragraphen Handwerkerfleiß und Kunstbeflissenheit rühmen – nicht Waffen. Die heutigen Politiker, diese Musik hörend, müßten eigentlich schamrot werden, wenn sie etwas davon verstünden.

Es folgten die „Wesendonck-Lieder“ Richard Wagners, die die Träume und die Liebe rühmen, die der heutigen Politik abhanden gekommen sind, vorzüglich vorgetragen von Nina Stemme, der neuen schwedischen Nachtigall aus Berlin und Wien, und den Abschluss bildete, wie gesagt, Schostakowitsch. Die 15. Sinfonie wird oft mit dem Mysterium des Todes umgeben, weil sie das letzte seiner sinfonischen Werke ist. Die Zeichen des Todes fehlen zwar nicht – die „Todesverkündigung“ der Wagnerschen „Walküre“ wird zitiert, und Schostakowitschs eigene „Leningrader Sinfonie“. Aber diese Motive verschwinden, und es bleiben ein unirdisch schöner Gesang und die entschwebenden Rhythmen der Celesta. Für mich ist das keine „Todes-Sinfonie“. Es ist eine neue Auferstehungssinfonie – das Gegenstück zur „Auferstehungssinfonie“ des von Schostakowitsch so verehrten Gustav Mahler.