von Angelika Leitzke
Als ich an einem Wintertag den Flohmarkt am Kupfergraben in Berlins Baustellen-Mitte verließ, war ich um fünf Pfund schwerer und zwei Euro ärmer. So viel kostete mich ein Karl-Valentin-Buch, das ich am Stand gebraucht, aber fast wie neu aussehend, erworben hatte – bei eisigem Wind und Dauernieselregen. Leider währte mein Besitzerstolz nicht allzu lange, denn als ich die Spreebrücke Richtung Hackescher Markt passierte, löste sich mein Stiefelschnürsenkel auf, und um ihn rasch wieder zuzubinden, legte ich den fünfpfündigen Valentin auf das Brückengeländer, worauf ihn der Wind sogleich aufhob und hinunter in die nicht minder eisige Spree spülte.
Valentin in der Spree: Das klingt nach Widerspruch, nach Contradictio in adjecto. Denn: Was hat ein Karl Valentin in der Spree zu suchen, die ihn entweder in Berlins Kanäle leitet oder über Havel und Elbe in die Nordsee spült? Den Weg nach Bayern findet dieser Band jedenfalls nicht mehr, es sei denn, das Land Berlin und das Land Bayern vereinbaren in absehbarer Zeit einen Isar-Spree-Kanal, der vielleicht dazu führen könnte, daß Preußen und Bayern schneller Kontakt miteinander bekommen und dabei entdecken, daß sie viel mehr gemeinsam haben, als sonst angenommen: zum Beispiel den nachlässigen Umgang mit einstigen Lokalgrößen. Das heißt dem Urbayern Karl Valentin und dem Fast-Urberliner Heinrich Zille.
Zille, 1858 bei Dresden geboren, der als knapp Zehnjähriger mit seinen Eltern nach Berlin kam, hat bekanntlicherweise die unteren Zehntausend in Witzblättern, Zeichnungen, Lithos, Gemälden und schließlich auf Fotografien festgehalten. Auch als Pornographist war er recht erfolgreich. Aus seinen zweidimensionalen Berliner »Milljöh«-Schilderungen hätte Karl Valentin durchaus eine bayerische Kabarettvorstellung machen können.
Heinrich Zille, wie Valentin Sohn »kleiner Leute«, wurde in der Metropole zum »Pinselheinrich«, der lokalpatriotisch und sozialkritisch den Berlinern erst einmal das Milljöh verklickern mußte, bevor sie es fraßen. Seit 1903 Mitglied der Berliner Secession und seit 1924 auf Vorschlag von Max Liebermann Professor an der Preußischen Akademie der Künste, erhielt Zille nach seinem Tode 1929 zwar ein Ehrengrab auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf, wurde dann jedoch vergessen: Die Nazis, deren Erstarken er – wie Valentin – mit größtem Argwohn registrierte, hätten ihn wohl leibhaftig verbrannt. Zwar interessierte sich der 1945 gegründete Kulturbund der späteren DDR für Heinrich Zille, nicht zuletzt weil er dessen Nähe zur Arbeiterbewegung für seine Propagandazwecke zu nutzen und ihn zum Volkskünstler zu stilisieren suchte. Im Westen aber war das Bild Heinrich Zilles bald verblaßt. Die Stadt Berlin hält das Andenken mit drei entsprechende Straßenbenennungen, zwei Gedenktafeln sowie die Nobilitierung eines Abenteuerspielplatzes zum Heinrich-Zille-Park aufrecht. Die Sache mit dem Heinrich-Zille-Park geschah wahrscheinlich aus reinem Schuldgefühl heraus, da ein dort 1948 aufgestelltes Zille-Denkmal später wieder entfernt wurde.
Erst der 1999 gegründeten Heinrich-Zille-Gesellschaft gelang es, allein durch private Bemühungen – das heißt von Verlagen, des Kunsthandels und der Erben – ein Zille-Museum im Nicolai-Viertel zu kreieren, das 2002 eröffnet wurde und allein privat finanziert beziehungsweise ehrenamtlich geführt wird.
Ähnlich erging es Karl Valentin (1882 bis 1948). Als Kabarettist, Komiker, Autor und Filmproduzent war er ein Allroundtalent wie Zille, doch im Gegensatz zu dem Berliner tingelte er durch die Lande: Auftritte in München, Nürnberg, Zürich, Wien, von 1924 bis 1938 Gastspiele in Berlin. Wenn er gesehen hätte, wie er hier an einem eisigen Sonntag in der Spree landet, hätte er wohl die Stadt nie betreten oder aus seinem Grab in München-Planegg in seiner grantlerischen Art mitgeteilt: »Der Optimist ist ein Mensch, der die Dinge nicht so tragisch nimmt, wie sie sind.«
Von Karl Valentins Sprachtalent waren nicht nur Brecht, der zu seinem engen Freund wurde, sondern auch Kurt Tucholsky und Alfred Kerr begeistert. Doch als Valentin 1948, finanziell ruiniert und unterernährt, an einem simplen Katarrh starb, wurde es erst einmal dunkel um ihn. Das Interesse der Stadt München an ihrem Querdenker beschränkte sich zunächst darauf, eine Straße im Stadtteil Forstenried nach ihm zu benennen.
1953 aber weigerte sie sich, für siebentausend Mark den Nachlaß von Valentins Witwe zu erwerben. Statt dessen kaufte ihn ein Professor vom Theaterwissenschaftlichen Institut der Universität Köln, wo er bis heute noch ruht. München entschied sich dagegen für ein Valentin-Denkmal, dessen Wartung wohl kostengünstiger kam, und so wurde 1953 auf dem Münchner Viktualienmarkt – heute eine Art Open-Air-Galerie Lafayette für bayerische Gourmets im Lodenmantel – ein von Ernst Andreas Rauch gestalteter Brunnen, Valentin und seiner langjährigen Partnerin Liesl Karlstadt gewidmet, errichtet.
Mit der Publizierung von Valentins Werken wartete man länger. Erst 2003 erschien auch das akustische Gesamtwerk des bayerischen Urgewächses auf acht CDs. Zum 125. Geburtstag des Künstlers 2007 wurde eine Sonderbriefmarke gedruckt und erstmals der Große Karl-Valentin-Komikerpreis verliehen, der passenderweise und verdientermaßen an Gerhard Polt und die Biermösl Blosn ging.
Im übrigen könnte Berlin nun ein George-Grosz-Museum bekommen, bestückt mit Werken aus dem Besitz der in den USA lebenden Erben. George Grosz, wiederum ein Urberliner (1893 bis 1959), der 1933 nach New York emigrierte und 1959 in Berlin kurz nach seiner Übersiedelung, starb, könnte es vielleicht ein wenig besser haben als Valentin und Zille, sofern die Sponsoren rechtzeitig einspringen, nachdem Berlin wieder einmal mit leeren Beuteln zu winken droht – dies in einer Zeit, in der die sogenannten Größen der Kunst sich ihr eigenes Museum bereits zu Lebzeiten einrichten – wie zum Beispiel das einstige enfant terrible Hermann Nitsch bei Wien –, aber auch in einer Zeit, in der es immer mehr Sache von Privatfinanciers wird, sich um eine Kultur zu kümmern, die nicht auf dem Vorzeigeplatz der Berliner Museumsinsel pausenlos Touristen anlocken soll.
Vielleicht muß man die ganze Sache wie Karl Valentin nehmen: »Die Zukunft war früher auch schon mal besser.«
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