25. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Der Einzige und sein Eigentum“ – Deutsches Theater / „Der Sturm“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters.

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DT: Mir geht nichts über Mich

Karl Marx und Friedrich Engels fühlten sich derart provoziert, dass ihre Polemik gegen „Der Einzige und sein Eigentum“ von Max Stirner, das 1844 erschienene Hauptwerk des Nietzsche-Thesen kühn vorwegnehmenden, radikal-individualistischen Vormärz-Philosophen, dass die materialistischen Widerworte der M-L-Klassiker hinauswuchsen auf gleich mehrere Hundert Druckseiten – spöttisches Motto: „Sankt Marx“.

Noch Jahrzehnte später adelte Existenzialisten-Fürst Albert Camus Scharfdenker Stirner mit dem freilich zweifelhaften Titel „Nihilistischer Rebell“.

Und wahrlich, der geniale Sohn eines Bayreuther Instrumentenbauers, der in seinem Pädagogikstudium Vorlesungen von Hegel und Schleiermacher hörte, sein Referendariat an einer königlichen Realschule in Berlin hatte und seine Laufbahn ausgerechnet an einer Mädchenschule begann, wahrlich, dieser Stirner schlug mit seinem Wut-Werk ein wie eine Bombe. Bei Reclam erschien es zuletzt anno 1986; gebunden habhaft für 19,80 Euro, Paperback für 12,00 Euro (gebraucht jeweils einige Euro weniger).

Stirners 463-Seiten-Anarchofibel feiert, kurz gesagt, eine von der Gesellschaft total abgesetzte Ich-Bezogenheit. Predigt eine Absage an jede Indienstnahme des Ich durch übergeordnete Instanzen, ob göttliche oder menschliche; attackiert alle Moral jenseits des Eigennutzes, plädiert für einen radikalen Egoismus und meint, dass allein der Einzelne Verantwortung für sein Handeln übernehmen müsse. Es geht also gegen alles: Gegen Staat, Recht, Sitte, Moral. Motto: „Mir geht nichts über Mich. Ist es mir recht, so ist es recht.“

Soviel zu Max Stirner (1806–1856); begraben auf Sophien II, dem Friedhofsidyll in Berlin-Mitte, Bergstraße.

Und passenderweise gerade jetzt, in den Zeiten des wuchernden Hyper-Individualismus der Postmoderne, hatte Sebastian Hartmann, der für avanciert artifizielle theatralische Auflösungen bedeutender Texte berühmte Regiekünstler, die zündende Idee, den philosophischen Solitär als musikalisch aufbereitete, oratorisch oder auch revuehaft anmutende Textcollage mit sechs Akteuren, zwei Musikern und einem Live-Kameramann auf die Bühne zu bringen.

Das Ergebnis: Ein hochspannungsgeladenes Zwei-Stunden-Großereignis!

Hartmann nennt es „Ein Stück Musiktheater“, für das der Elektro-Pop-Musiker PC Nackt die sagen wir „Soundlandschaft“ entwarf, die wiederum betört durch eine erstaunliche Fülle des Wohllauts. – Nebenbei bemerkt: Keine Bange, PC Nackt mit dem provokanten Pseudonym tritt diskret im schwarzen Anzug und weißen Hemd in den DT-Orchestergraben an die Tasteninstrumente; sein Kollege Earl Harvin im gleichen Dress an die Schlagwerke.

Nun hat Hartmann mit seinem bewundernswerten Fantasiereichtum nicht nur diese grandiose, expressionistisch eingefärbte Stirner-Performance aus Sprechkunst, Singsang, Video, Visual Arts und Bewegung (Choreographie: Ronni Maciel) inszeniert, er schuf zugleich das wirkmächtige Bühnenbild: Eine monumentale Skulptur auf der Drehbühne. Sinnigerweise ein Zitat des Modells für das Denkmal III. Internationale (1919–1922) des frühsowjetischen Avantgardekünstlers Wladimir Tatlin.

Also ein bis in den Bühnenhimmel ragender spiralförmiger, begehbarer, zuweilen sanft rotierender Turm ganz in weiß – nutzbar auch als Projektionsfläche für die kunstvollen Großaufnahmen (Kamera: Dorian Sorg) der von Kostümgestalterin Adriana Braga Peretzki elegant gewandeten drei Schauspielerinnen und drei Schauspieler.

Das Monument ermöglicht ein raffiniertes, unglaublich perfekt exerziertes, mal grelles, mal düsteres, zackiges oder wehes, mal einzelnes oder kollektives Auf und Ab und Hin und Her von Elias Arens, Felix Goeser, Linda Pöppel, Anja Schneider, Cordelia Wege und Niklas Wetzel. Alles Könner!

Also ein atemberaubender Abend im DT – gleich zum Auftakt der Saison. Ein teils komisches, teils todernstes, sarkastisches oder ironisch groteskes, zuweilen pantomimisch tänzerisches, immer aber leichthin zelebriertes Schau-, Show- und Denkstück. Mit bitterer Pointe zum Schluss: Da windet sich einsam, schmerzverzerrt, gleichsam am Ende seiner Kräfte Niklas Wetzel wie ein Wurm im Turm in die Höhe. Doch er schafft es – natürlich bei weitem kein Gott – nicht bis in Stirners Ego-Himmel: das elende, verwundbare kleine Menschenkind.

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DT-Kammer: Kein starker Sturm. Nur laue Lüftchen 

Die Bühne (Stéphane Laimé) – schon wieder mal – öd und leer. Dann schlurft da ein ältlich abgewrackter Kerl herbei. Kaum zu glauben, es ist Prospero (Wolfram Koch), einst herzogliche Macht, dann von neidisch gieriger Feindschaft gewaltsam verbannt auf dies elende Eiland inmitten vom Meer, wo er nun – dank Shakespeare – herrschen darf. Fantastisch ausgestattet mit zauberischen Kräften nebst einem Bücherschatz, den Jan Bosse, der Regisseur, erstaunlicherweise niemals zeigt. Stattdessen tobt ein Sturm, wirft Schiffbrüchige an Land; und aus dem Bühnenhimmel ein Wirrwarr aus Seilen.

Das Strandgut sind Prosperos alte gegnerischen Seilschaften, die nichts als böses Chaos stiften unter sich wie unter den eingesessenen Insulanern – dem halbtierischen Caliban, dem trickreichen Luftgeist Ariel sowie Miranda, Prosperos Töchterlein.

Shakespeare entfesselt im „Sturm“, diesem vertrackt-verrückten Rätselspiel von 1611, ein Menschen-Märchen-Welttheater voll von blutigem Dampf und drastischer Komik, von Bitterkeit und Melancholie, das schließlich ein aristokratisch weltweiser alter Herr in anrührend humane Ordnung führt. Doch diese Utopie, das Versöhnende, liebevoll Erlösende, das klappt halt höchstens mit Zauberei – der kriegerisch verrückten Welt ist sonst nicht zu helfen. Eigentlich eine Tragödie. Ein schlimm-schöner Traum. Da denkt am Ende Prospero nur noch an sein Grab.

„Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier“, singt mit betörend rauchiger Stimme der Luftgeist (Lorena Handschin). Doch Teuflisches, Himmlisches, Höllisches, das findet hier gerade nicht statt. Keine Gefühle, kein Kampf und Krampf, kein Macht- oder Ohnmachtsspiel. Bloß kabarettistischer Mummenschanz und akrobatische Turnerei im Gestrick der Seile. Die abgründigen Scherze des Dichters unentwegt ungespielt samt deren höhere Bedeutung. Dafür angestrengt ballermannmäßige, auch unverständliche Blödelei. Und Jakob Noltes neckische Eindeutschung. Eine Art Linearübersetzung des Sprachkunstwerks mit auf Dauer albern kleinkindlicher Wirkung: „Tust du lieben mich?“