Mit rund einem Dutzend Lieder zu dieser Jahreszeit sei DDT die „herbstlichste Gruppe“ des Landes, schreibt das russische Webmagazin GOL. Frontmann und Superstar Juri Schewtschuk bestätigt, das passe wohl am besten zur Mentalität seines Volkes und wählt Worte wie gefühlvoll, traurig, tragisch. Irgendwie könne man im Herbst besonders leicht über den Tod nachdenken … Das hat er oftmals getan. Öffentlich zuletzt auch bei einem Konzert im baschkirischen Ufa rund 1200 Kilometer südöstlich von Moskau. Sehr zum Unwillen der staatlichen Obrigkeit. Die ließ im August die Strafzahlung des Höchstsatzes von 50.000 Rubel (833 Euro) wegen „Diskreditierung der Armee“ verhängen. Eine nächste Stufe wäre Haft. Der Verurteilte ging in Berufung.
Es ist dem 65-Jährigen todernst, als er Mitte Mai sein Konzert für eine ungewöhnliche Ansprache unterbricht. „In der Ukraine werden Menschen umgebracht, auch unsere Jungs sterben da. Wofür? Was sind die Ziele, Freunde? Schon wieder kommt die Jugend um – Russlands Jugend und die der Ukraine. Es sterben auch alte Menschen, Frauen und Kinder. Wofür? Für irgendwelche napoleonischen Pläne des nächsten Cäsars? Ist es das?“ Riesenbeifall, Rufe „Danke!“ Das Zeug zum geflügelten Wort hat die Mahnung des populären Sängers von der Bühne des Eispalastes „Ufa-Arena“: „Heimat, meine Freunde, das ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man die ganze Zeit lecken und küssen muss. Heimat – das ist die arme Großmutter am Bahnhof, die Kartoffeln verkauft“ (Юрий Шевчук: Родина – это не ж*па президента! DDT в Уфе, 18.05.22; ab Minute 9:05).
Einen Prozess „zur Anerkennung, dass Heimat der Arsch des Präsidenten sei“, fordert spöttisch in seinem Kommentar Wassja Dojtschew. Webnamen können Schall und Rauch, können in solchen Zeiten Decknamen von diesem und jener sein. Doch die Meinungen der widerstreitenden Lager sind glaubhaft. So stößt Olga Tichomirowa den Anhängern Schewtschuks gründlich Bescheid. Weder diese noch der Sänger hätten überhaupt nicht verstanden, worum es geht – „Lieder sind nicht alles.“ Auch ein begabter Mensch könne „ein Narr, ein ignoranter und unwissender Bastard, ein Verräter und ein Mörder sein“. Um zu verstehen, was vor sich gehe, „muss man in erster Linie die Begründer des Marxismus-Leninismus lesen.“ Die Ukraine sei „als Quasi-Staat“ gegen geopolitische Rivalen geschaffen worden. „Sprechen Sie mit den richtigen Leuten.“ Das wäre dieser Meinung nach an erster Stelle ganz sicher der Kremlchef und Oberkommandierende.
Juri Schewtschuk hingegen wolle sich der Verantwortung entziehen, wenn er seine Schuld nicht anerkenne, hatte Richterin Julia Jegorowa in der schriftliche Begründung vorgesorgt. Das „Sowjetische Bezirksgericht der Stadt Ufa der Republik Baschkortostan“, so die offizielle Bezeichnung, hatte sich einer Aufgabe angenommen, die Richter in St. Petersburg klüglich von sich und an den „Tatort“ zurück gewiesen hatten. „Insbesondere die umstrittene Äußerung von Herrn Schewtschuk bei einem Konzert in Ufa am 18. Mai enthalte eine implizite negative Bewertung der Entscheidung des Präsidenten, eine militärische Sonderoperation in der Ukraine durchzuführen“, hieß es nun laut einem ausführlichen Bericht der Zeitung kommersant. Der Sänger habe die Zuhörer „aufgefordert, eine Bewertung der Ereignisse in der Ukraine vorzunehmen, und zu Zweifeln über den Zweck des Einsatzes der russischen Streitkräfte ermutigt“. Die Worte des charismatischen Musikers über „napoleonische Pläne“ hätten die Armee diskreditiert, da diese mitnichten eine Invasion durchführe, gab ein Vertreter des Innenministeriums vor.
Doch dem bekennenden Pazifisten „schmerzt die Seele“ angesichts des Krieges gegen die Ukraine. „Ich, Juri Schewtschuk, war immer gegen den Krieg, in jedem Land und zu jeder Zeit“, gibt er zu Protokoll. So protestierte er gegen die Kriege in Vietnam, Afghanistan, Jugoslawien, Tschetschenien, Abchasien, Georgien, Ossetien, Nagorny Karabach, Irak. „Не стреляй!“ – Schieß nicht, heißt eines seiner frühen Lieder. 1995 reist er als „einfacher Bürger“ und dessen unversöhnlicher Kritiker in den Tschetschenien-Krieg, gibt Konzerte. 1999 tritt er in Belgrad auf und geht scharf die NATO wegen der Bombardierung Serbiens an.
„Wer kann uns über das Sterben ein paar ehrliche Worte sagen“, heißt es in dem berührenden Lied für „Kapitan Kolesnikow“. Der diente und starb am 12. August 2000 auf dem havarierten russischen Atom-U-Boot „Kursk“. Mehrere Videoclips wurden mit der Musik von DDT gefertigt, einer davon dürfte dem Präsidenten besonders missfallen. Es enthält nicht nur die Zeile, dass noch lange gelogen und irgendwann eine Kommission mitteilen werde, wie schwer das Sterben sei. Sondern zum Ende ist ein Mitschnitt von Putins unseliger kalter Antwort auf die Frage des Talkmasters Larry King von CNN, was denn nun mit der Kursk geschehen sei, eingefügt – „Онa утонулa“ (Es ist untergegangen); (ДДТ – Капитан Колесников (Курск), Minute 3:32).
„Ein sehr ehrlicher Song, wahrscheinlich der ehrlichste Song über diese Zeit, und er ist auch heute noch aktuell. Danke Yura.…“, schreibt Ilgis Manguschew. Als „Held und Ehre unserer Zeit“ lobt Sergej Ustenko den Rockpoeten. „Mit solchen Menschen bleibt die Hoffnung, dass unsere Heimat leben wird.“ Bei diesem wunderbaren Präsidenten und seiner „Spezialoperation“ zerfällt unsere Heimat wahrscheinlich in 100 kleine Teile, befürchtet Boris Mertschalow. „Nur diese Art von Musik kann uns jetzt vor dem Wahnsinn retten…“, meint Nadjeschda Bratschikowa. Das Lied „Третья мировая“ (Dritter Weltkrieg) wird von MC Spek mit dieser Erinnerung begleitet: „Als Kinder wurde uns beigebracht, dass Frieden herrschen soll und dass Krieg böse ist. Wir haben Antikriegsplakate gezeichnet. Und jetzt werden wir für die Worte ‚Der Welt – Frieden!‘ und ‚KEIN KRIEG‘ ins Gefängnis geworfen… Wie konnte es so weit kommen, Leute?“ Das fragt sich auf der Gegenseite allerdings nicht nur Larissa III. Sie zählt Schewtschuk ganz einfach zu jenen „alten Rockern, die den Verstand verloren haben und nichts von Ehre und Würde eines Menschen verstehen“.
DDT „kann vorerst keine Konzerte in Russland geben“, informierte Schewtschuk den Telegram-Kanal Vorsicht Medien Mitte August. Die Gruppe stehe auf der Liste verbotener Gruppen, die unter Veranstaltern verbreitet werde. Er persönlich werde aber weiter darüber sprechen, was geschehe – „in Liedern und auf anderen Plattformen“. Man müsse spielen und die Idee des Friedens in Russland verbreiten. „Doch sie lassen uns nicht.“ Über Auftritte im Ausland werde nachgedacht. „Ich will hier nicht weg, aber ich könnte rausgeschmissen werden.“
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