25. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2022

Bewandtnis

von Werner Sohn

Dem Münchener Philosophen Dieter Henrich
zum 95. Geburtstag

Das Wort „Bewandtnis“ wird heute selten gebraucht. Immerhin gilt es den einschlägigen Wörterbüchern noch nicht als veraltet. Der durchschnittliche deutsche Muttersprachler versteht den Ausdruck, zumal in den wenigen Satzzusammenhängen, in denen er Verwendung finden könnte, etwa, dass es mit einer Sache vielleicht eine „besondere Bewandtnis“ habe. Dies scheint auch die bei weitem häufigste Wortverbindung zu sein, in der „Bewandtnis“ derzeit noch in Erscheinung tritt.

Man könnte es als Synonym für „Sinn“ und „Bedeutung“ auffassen, doch enthält Bewandtnis einen Unterton von Unklarheit, Rätselhaftem oder auch Geheimnisvollem. Es liegt nicht offen zutage, wenn es mit einer Sache, einem Ereignis eine Bewandtnis hat. Sofern es der Fall ist, wirken die Adjektive „besondere“ oder „eigene“ eher tautologisch. Mit der Bewandtnis ist es in jedem Falle etwas Eigenes, und zwar so sehr, dass die Angelegenheit, um die es geht, eine ganz konkrete sein muss.

Das bedeutungsähnliche Wort „Sinn“ erscheint demgegenüber nicht nur durch zahlreiche Anwendungen und Komposita schillernd, sondern auch abgenutzt durch häufigen trivialen Gebrauch. Der „Sinnsucher“ wird zumeist als mystisch angehauchte Randfigur, manchmal auch nur als Karikatur angesehen. Wem etwa, meint Ludwig Wittgenstein, „der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar“ werde, der könne leider „nicht sagen […], worin dieser Sinn bestand“ („Tractatus logico-philosophicus“).

Es sei dahingestellt, ob man eine solche Beobachtung wirklich verallgemeinern darf. Demgegenüber soll jedenfalls die Bewandtnis erläuterungsfähig sein, nicht den Sinn des Lebens, sondern die Bedeutung eines Lebens zur Sprache bringen, indem Tendenzen aufgedeckt und zusammengeführt werden, die eine Person in ihrer bewussten Lebensführung als Quintessenz anzuerkennen vermag. Zu ihr gelangt man nicht ohne methodisches, rationales Denken, jedoch nicht im Sinne einer bloßen Abfolge logischer Erklärungen, die etwa die so genannte „Selbst-Erkenntnis“ hervorbringt, sondern durch ein Verstehen eigener Art. Mit solchem Verstehen hat es demnach schon selbst eine „besondere Bewandtnis“, da man Blickwinkel und Blickrichtung sowie Gedankenverbindungen sich selbst erlauben, erarbeiten und schließlich zu eigen machen muss.

Zur Bewandtnis gehört das seit den Nachkriegsauflagen des Dudens als veraltet geltende Partizip von „bewenden“. So bewandt, so beschaffen ist eine Sache, deren Bewandtnis sich einem Menschen erschließt. Auf die Beschaffenheit des existenziellen Kontinuums, in dem das jeweilige Leben sich vollzieht, kommt es an. Dabei gibt es keine Trivialitäten, kein hoch und niedrig. Alle speziellen geistigen Voraussetzungen sind bereits für den – unabhängig vom Bildungsstand – erfüllt, der sich durch die Frage nach der Bewandtnis seines Lebens in Bewegung, in Unruhe gesetzt fühlt.

Mit diesen Gedanken hat sich der Münchner Philosoph Dieter Henrich (geboren 1927) seit über 60 Jahren beschäftigt. Eine Studie über „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ (1966), eingestanzt in die berühmt-berüchtigte hybride Formel vom Ich, das sich selbst setzt (1794), dokumentiert dabei seine, Henrichs, ursprüngliche Einsicht, mit der er sich durch das Gebirge der deutschen idealistischen Philosophie bohrte und in immer neuen Anläufen eine subjektivitätsphilosophische, das Bewusstsein gründende Sichtweise entfaltete. Johann Gottlieb Fichtes ursprüngliche Ich-Philosophie, der sich, wie Henrich damals glaubte, „das Ohr der Gegenwart verschließen“ musste, verliert sich allerdings nach und nach in einer geheimnisvollen Lichtmetaphorik, in der schon der gelehrte Hofrat Leibniz (ebenso insgeheim) den Grund von Jeglichem und für alle Bewandtnis suchte. Immerhin hat Fichte in verschiedenen „populären“ Schriften (unter anderem „Die Anweisung zum seligen Leben“, 1806) dem herumirrenden und seiner selbst ungewissen Ich ins Stammbuch geschrieben, worin die Bewandtnis eines jeden Daseins nur bestehen könne: seine Bestimmung zu ergreifen, das heißt „sein zu wollen, was man sein soll und sein kann“.

Von solch apodiktischem Tonfall, wie ihn nicht selten eine akademische Begeisterung für den deutschen Idealismus oder auch seine materialistischen Nachfolger zur Nachahmung inspirierte – insofern mag man dem verschlossenen „Ohr der Gegenwart“ ein wenig nachfühlen –, ist Henrich stets frei geblieben. Noch im 89. Lebensjahr hat er 2016 eine 500 Seiten starke Monographie („Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin“) vorgelegt, in der es nicht nur um zwei bedeutsame Dichter, sondern wieder und wieder darum geht, dass und wie das Subjekt als konkrete Person (und immer auch das Individuum Dieter Henrich) um eine Bewandtnis ringt. Ob im religiös oder profan bestimmten Lebensvollzug, ob in plötzlicher Einsicht oder im allmählichen Gewahrwerden (sei es ein Lichten oder Verdunkeln) – Bewandtnis zeigt sich nur als Zug des Einzelnen auf ein Ganzes. Auch Fichtes berühmtes Ich bekommt schließlich weiche Knie. Es vermag sich nicht selbst zu genügen. Vom Zweifel in die Enge getrieben, setzt es sich nicht mehr „schlechthin“, sondern (nur noch) „als vorausgesetzt“ (Fichte: „Wissenschaftslehre“ 1805).

Jeder für sich erlebt in seinem Leben diesen Zug auf ein Ganzes als eine tragende und Halt gebende oder brüchige oder nicht mehr vorhandene, verloren gegangene Bewandtnis. Zwar verwickelt sich jedes Hindenken auf ein Ganzes für den undogmatischen Selbstdenker (exemplarisch: „Sein oder Nichts“) in Aporien. Diese gehören aber als „Grenzgedanken“ (Henrich) unvermeidlich zur Summe, mit der ein bewusster Lebensvollzug zuletzt sich einrichten will.

Die Summe kann nicht frei sein von logisch Ungereimtem und ethisch Fragwürdigem. Aus Sicht der stoischen Philosophie ist nicht maßgeblich, ob die Bewandtnis letzter Hand für das Publikum eher günstig oder eher ungünstig zu bewerten ist. Wer könnte auch die Maßstäbe für die Beurteilung einer Geschichte liefern, die lange vor uns ebenso im Dunkeln beginnt, wie sie lange nach uns im Dunkeln enden dürfte? Den Stoiker, den es als solchen freilich nur in der Form des „Möchtegerns“ gibt, kennzeichnet die Auffassung vom großen Weltentheater. Er wäre, theoretisch jedenfalls, zufrieden, wenn er feststellen könnte, seine Rolle gut gespielt zu haben. Dabei beruhigt zu wissen, dass niemand aus der Rolle fallen kann. Man kann sich aber das Leben unnötigerweise schwermachen. Das ist so weit von Fichte nicht entfernt, entsagt jedoch sowohl dem Pathos als auch der „Seligkeit“. Das Glück des Stoikers ist, des Glückes nicht zu bedürfen (Seneca „Von der Vorsehung“). Die Bewandtnis zeigt sich für einen solchen Menschen letztlich nicht im Was, sondern im Wie eines einmaligen Lebensverlaufs. Er wird dabei gewesen sein. So viel steht fest. Und dies vielleicht sogar mit einer Haltung, die seinen eigenen Ansprüchen an Lebensführung genügt. Das wäre viel. Das ist nur wenigen vergönnt.

Von unserem Autor erschienen in diesem Jahr: „Die Sekunden vor der Wahrheit und andere Erzählungen“ sowie „Das absolute Nichts und andere Erzählungen“ in der Edition Bärenklau.